Samstag, 20. März 2010

In die Kiste: Bilder von mir.

Mitten im Umzug, im Auszug setzt sie aus, die gewohnte Zeit: Mal schleicht sie sich auf Katzensohlen durchs Hintertürchen, und ehe du dich versehen hast, ist sie davon. Mal springt sie wie ein Raubtier mitten auf den Küchentisch und zerreisst Muse und Stille zwischen ihren hungrigen Fängen ... Während um mich herum das Haus leer und die Kisten voll werden, spürt sich mein Inneres an wie ein Tier in einem zu kleinen Käfig, wie ein Weiblein, an dem an allen Ecken und Enden gerissen und gezogen wird, wie ein Vogel in einem Wirbelsturm ...

Ich komme an meine Grenzen, wenn ich jeden Tag darüber entscheiden muss, welche Dinge ich zum Leben brauche und welche nicht. Ich verliere die Geduld, wenn ich die Blätter des Winters mühsam aus allen Ecken und Ritzen des Gartens zusammen gekehrt habe und dann ein Frühlinswind in spielerischem Toben mitten hinein fährt und alles wieder verteilt. Ich werde zornig, wenn mein Plan A, B und C immer noch nicht funktioniert und ich alles noch einmal von vorne denken und machen muss.

Ausziehen, das ist auch eine re-produktive Tätigkeit. Alles noch einmal tun. All die Dinge, die ich mal angeschafft habe, für die ich einen Platz gefunden habe müssen nun ent-sorgt, ver-staut und re-produziert werden: Indem ich sie in die Hand nehme entstehen in meinem Kopf die Bilder, die mit ihnen verbunden sind. Wann ich sie wo oder durch wen erworben habe, welche Geschichten ich mit ihnen erlebt habe. Das alles ist mühseelig und erfordert ziemlich viel Kraft. Mehr, als ich erwartet hatte.

Überhaupt, die Erwartungen und das Unerwartete. Plötzlich schneien sie herein, all die Freundinnen und Freunde, auf einen Kaffee, eine Idee, einen Austausch. Weggehen, das löst auch den Wunsch aus hier zu bleiben, festzuhalten und sich zu vergewissern was war und eine verbindet. Mich macht das froh und traurig zugleich: Sehe ich doch die vielen entstandenen, "poduzierten", meint geschaffenen Schätze menschlicher Verbundenheit, die auch gewachsen sind in diesen 10 Jahren an diesem Ort. Die ich jetzt verlasse. Und mich frage, wie oft ich das Offensichtliche nicht sehe, nicht wahrnehmen kann und will. Ist mir das Alltägliche so zur Gewohnheit geworden? Gehe ich fort, weil ich mir aus der Fremde die Sensationen erhoffe, die der Alltag nun einmal nicht zu geben hat?

Es liegt etwas Tröstliches auch darin, dass die Dinge sind, was sie sind. Sich manchmal nur so minutiös verändern, dass es einer schon wie Stillstand erscheinen kann. Was wäre es für eine Anstrengung, sich jeden Tag des Gewohnten erneut zu versichern?! Und dennoch: Sogar die Natur kennt Wirbelstürme und Erdbeben, um alles einmal ordentlich durcheinander zu wirbeln.

Aber ich erkenne auch, dass ich eine von langsamer Gangart bin, auch wenn ich zu rasenden Geschwindigkeiten neige und mich dabei oft selbst überhole. Innerhalb weniger Stunden packe ich ein halbes Haus ein - und sitze dann da und brauche Tage und Wochen um die aufgewirbelten Lebensströme zu begreifen. Mein inneres Tierchen, das sich nach Geordnetheiten und Übersichtlichkeit sehnt weil sonst die Angst zu übermächtig werden droht, gerät in Panik und läuft mit dem Kopf voran gegen die Wand. Und der Rest von mir ist beschäftigt mit Besänftigungen. Alles wird gut.

Beim Einpacken erfährt eine ihre Grenzen. Ja, ich glaube, dass ich ohne Netz und doppelten Boden leben kann. Im Ungestalteten, Prekären, im stetigen Übergang. Doch was sagen die anderen in mir dazu?

Da gibt es die Freibeuterin, die am liebsten alles stehen und liegen lassen würde, lieber heute als Morgen auf der Staße wäre und nach den Abenteuern dürstet, die das Leben doch versprechen und erst lebenswert machen sollten.

Da gibt es die Vorsichtige bis Überbesorgte, die Perfektionistin, die alles richtig und vor allem bestätigt gut machen möchte. DIN-genormte Kisten in Reih und Glied, farblich gekennzeichnet und mit Inhaltslisten beklebt zwecks besserer Übersichtlichkeit horizontal gestapelt. Eine, die sich vor dem drohenden Abgrund fürchtet und ihn mit Korrektheit bezwingen möchte. Die Katholikin in mir, die immer noch glaubt, dass die, die sich an die Regeln halten (wessen Regeln?) doch eines fernen paradiesischen Tages belohnt werden (müssen).

Und die Gleichgültige, die Nutznießerin, die Stetige, die voll Genervte, die ... Ungezählten. So engmaschig das Ich erscheinen mag ist es mehr doch ein Netz, in dem sich vieles zu verfangen vermag. Und jede von ihnen baut an ihren eigenen Mauern und Vorhersagen.

Einpacken kann ich sie nicht, ich bin sie und werde sie mit mir nehmen wie das Wetter. Außerhalb meines Zugriffs gelegen bedeutet Leben doch auch nur, mit all diesen Facetten ins Reine zu kommen und zu wissen: Wenn es hierlang gehen soll (und welche sagt denn das überhaupt?), dann müssen alle in die gleiche Richtung laufen wollen. Nur, dass sie eben nicht auf Befehle reagieren. Aber ebensowenig auf leise schmeichelndes Flüstern, die subtile Variante der Manipulation.

Und ich stelle fest: Vieles geht mit vielem, wenn eine schon gar nicht mehr glaubt, dass noch irgendetwas geht. Die Lösungen liegen manchmal genau außerhalb dessen, was eine für möglich erachtet. Keiner da, der dir Geld für das dringend benötigte Auto leihen kann? Da erzählt eine Freundin im Nebenbei, auf einer ganz anderen Bühne von Ebay, und plötzlich kauft eine deine Sessel, von denen du eh nicht wusstest, wohin mit ihnen. Das Unerwartete ist nicht immer nur gräßlich, sondern ziemlich oft sogar lindernd. Und vor allem wohl notwendige Kurskorrektur, wenn eie zu sehr in eine festgelegte Richtung starrt und läuft. Nein, aus dieser Gasse wird er nicht kommen. Aber dreh dich um, vielleicht steht er schon lange hinter dir. Und wartet nur darauf in Erscheinung zu treten.

In der vergangenen Woche habe ich an meine Freundinnen und Freunde ein Gedicht geschickt, "Die Einladung" von Oriah Mountain Dreamer. Darin fragt sie - unter anderem - danach, ob eine durch die Ungerechtigkeiten und Unwägbarkeiten des Lebens geöffnet wurde, sich diesen Waltkräften ergeben konnte oder sich klein macht und das Herz verschließt.

Eine solche Frage ist nicht leicht zu beantworten, und es gibt wohl auch keine Eindeutigkeit darin. Als lebendige, mäandernde Wesen kennen wir beides, und müssen beides kennen, den Verschluß und die Hingabe, auch an das Schmerzliche. Das Leben und wir Lebe-Wesen sind eben nicht entweder-oder sondern stets sowohl-als-auch. Und so gibt es Tage, da sitze ich da und halte meine noch-immer-nicht-eingepackten-Dinge im Arm, halte mich auf in Gesprächen und Gesprächen mit Menschen, die mir noch nie so wichtig waren wie jetzt, ziehe mich zurück in mein innerstes Schneckenhaus und weigere mich, vor die Tür zu treten oder sie irgendwem zu öffnen.

Bis dann der Tag kommt, oder das Zeitalter oder was auch immer, da reiße ich sie mit Macht wieder auf, die Fenster, lasse den Frühlingswind hineinstürmen und alles mit sich nehmen, schneuzte meine verheulte Nase und fließe dahin.

Auch meine Freundin Marie-Luise schreibt vom Verlust der "wahren Wahrheiten", der Eindeutigkeiten und dem langsamen Herantasten an das, was vielleicht ist und möglicherweise sein will. Leider gehöre ich schon immer zu denjenigen, denen alles nicht schnell genug geht. Also lehrt das Leben mich durch Hindernisse, die Geschwindigkeit zu drosseln. Präziser zu werden und verunsichert zu werden darin, wo ich meine, es schon zu haben und zu wissen. Deshalb wohl geht hier alles manchmal so schnell, um sich dann in Zähflüssiges zu verwandeln: Um mir Gelegenheit zu sein.

Es ist sicher nicht gewiss, ob es mir gelingt, diese Aspekte von mir in eine Kiste zu legen, diese zu verschliessen und zur Seite zu stellen. Manche Identifikationen sind einer ja sehr liebgewonnen. Aber zumindest den Versuch kann ich ja unternehmen: Mich selbst aus den notwenig erdachten Eindeutigkeiten zu erlösen. Oder sie zumindestens von Zeit zu Zeit abzulegen wie ein Kleid. Es ist ja immer noch da, dort, in der Kiste. Wenn es denn mal nötig sein sollte, kann ich es ja jederzeit wieder auspacken.

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