Montag, 14. März 2011

Sehnsucht Fremde



Wir lieben, was uns vertraut ist. Und wir sehnen uns nach dem, was fremd ist.

Menschen fahren in Urlaub, wandern aus. In Kino und Literatur werden uns ferne und fernere Welten vor das Auge geholt, globalisierte Märkte bescheren uns thailändisches Essen, exotische Gewürze und billige Kleider aus Fernost. Was Anfang des 20. Jahrhunderts das Sagen umwogene Saragossa, das glitzernde Samarkand und das mysteriös versunkene Atlantis war – ist heute Pandorra, die Besiedelung des Mars oder die unerforschte Tiefe des Meeres. Auf seiner schier unersättlich Suche nach immer unbekannteren Unbekannten, immer ferneren Gestaden scheint der menschliche Geist an immer weiteren Horizonten zu schweifen. Immer auf der Suche nach dem, was noch nicht gewesen aber denkbar ist, noch nicht gehabt doch nahezu greifbar, auf jeden Fall aber irgendwie erreichbar und machbar sein muss. Als wäre es das verfluchte Schicksal dieses allzu menschlichen Werkzeuges, nie da zu sein, wo es ist.

Doch zu Hause ist es am schönsten.

Da, wo die altbekannte Ordnung Sicherheit verleiht im Angesicht der unendlichen Möglichkeiten. Wo man sich scheinbar versteht, weil der Gleichklang der Worte Heimat schafft. Ähnlichkeit. Vertrautheit. Geborgenheit im Gleichmaß der Tage, der Ereignisse, der kalkulierbaren Risiken. Und entgegen allem Unwägbaren versichert sich das kollektive Ganze aneinander. Schließt die Reihen. Lasst das Fremde nicht eindringen in die guten Stuben, in die Rückzugsorte von der Welt.

Hässliche Fratzen werden der Abschreckung halber an die Grenzpfosten gemalt: Dunkelheit. Hunger. Armut. Schwarze Menschen, braune und gelbe. Aussatz und Krankheit. Schlafen unter den Brückenbogen am Rande der Rinnsteine. Furcht und Krieg und Tod.
Doch die Dämonen haben Füsse bekommen und Beinchen und haben sich eingeschlichen ins biedere Dasein. Tragen fußstabilisierende Halbschuhe und Nadelstreifenanzug, sprechen hochdeutsch und niesten sich wohlvertraut ein zwischen den Deckblättern von Steuererklärungen, Krankenscheinen und Hochschulnoten. Regieren die Träume im traumzeitlosen Land. Sind uns in Fleisch und Blut übergegangen, vertrauter fast als das eigene Fleisch. Längst schon liegen die Grenzen verwahrlost, ist das Grenzland still und heimlich eingezogen ins Nachbargrundstück und streichelt schon sanft um den Zaun.

Doch sind die Zäune erst einmal eingerissen, bleibt nicht mehr viel, das es zu verlieren gäbe. Diese Rechnung hat der Wirt ohne das Leben gemacht: Ist es erst mal da, lässt es sich so leicht nicht mehr vertreiben. Wächst aus dem Dunkel hervor wie die lichtscheuen Gewächse, die noch die letzten Ruinen sprengen mit ihrer unerwarteten Blütenpracht. Und plötzlich ist einEr draußen.

Aus gutem Grund waren es daher wohl immer die Paria, die Außenseiter, Störenfriede, Wiederspenstigen, die Unzähmbaren, die zuallererst aufbrachen, dorthin, wo das kollektive Sehnen wohnt. Und es mit unversiegbarer Bilder- und Wortflut nährten vom Hunger nach der Fremde. Kommt. Schaut. Hier ist alles anders als dort. Besser. Das Gold glänzt glänzender, die Tränen schmecken nach Salz und Meer und die Träume sind hochfliegende Falken die ihren Schatten auf´s Land werfen. Ganz nah ist alles, wie eine Fata Morgana im Schnee.

Doch am noch ferneren Horizont ziehen Wolken auf. EinEr trägt das Wetter mit sich, zieht es hinter sich her wie an seidenen Nabelschnüren, unentwirrbar verronnen mit dem, was zurück bleiben soll und immer doch schon da ist.
Und die vertraute Brille - Mutter-Sprache, Vater-Land, Brüder zur Sonne und Schwestern im Geiste – überzieht das Fremde mit dem samtenem Schal dessen was Ordnung schafft. Und Wiedererkennen besetzt das Morgenland mit dem Gestern.

Vielleicht können wir die Grenzen nur nach Innen verschieben. Enger ziehen bis das wir uns nicht mehr entkommen können. Unsere liebgewonnenen Deutungsmuster, Geborgenheit-stiftenden Gewissheiten in die Enge treiben bis das sie sich enttarnen und ihr gescheutes fremdes Gesicht zeigen.