Dienstag, 15. Februar 2011

Portugiesischer Winter


Mein erster Winter in Portugal. Während andernorts das Land sich in ein weißes Kleid aus Schweigen, Dunkelheit und kristallenes Licht hüllt, lösen sich hier alle Zuordnungen auf: Zwischen herbstlichem Nebel voller tautropfengeschmückter Spinnwebdiademe an Ästen und Fenstern und kathedralhohen Azurhimmeln erfüllt von Vogelgezwitscher und Schäfchenwolken springen die Tage zwischen den Jahreszeiten hin und her, fällt an den einen Bäumen das herbstlich rostrote Laub im gleichen Moment, in dem der Mandelbaum sein Blütenkleid anlegt und in den Zitrusfruchtbäumen die Orangen reifen. Alles hat neben allem Bestand, alles ist und kann gleichzeitig sein. Statt linearer Bewegung von A nach Z spiralförmiges Nebeneinander uralter Runensymbole in ihrer ganzen Bedeutungsfülle.
Es ist das Wasser, dass nahezu unaufhörlich in der einen oder anderen Form vom Himmel fällt, die Straßen in Bäche verwandelt und jede kleine Senke in einen See, das schwebende, sprühende, tosende, gurgelnde und rauschende Wasser, das diese fast schon unwirklichen Momente der Gleichzeitigkeit bewirkt.
Nach 9 Monaten unerbittlichen Sonnenscheins, der alles in Grund und Boden glüht, öffnet der Himmel seine sorgsam verschlossenen Schatzkammern und lässt all das aufgesparte Wasser auf einmal auf dieses ausgetrocknete Land nieder brausen, das ausschlägt wie eine magische Wüstenblume. Und weil diese gezählten Momente des Über-Flusses so gezählt sind, muss eben alles, das ganze Leben, Fruchtbarkeit, Zeugung, Heranwachsen, Reife und Tod zur selben Zeit stattfinden. Ganz so, wie im „richtigen“ Leben.
Meine auf die nord- und mitteleuropäische Ausdehnung der Zeit, auf das sorgsame und stetige Aufeinander-Folgen, auf das Nacheinander der Jahres- und Lebenszeiten ausgerichtete Seele hat ihre Mühe mit der Eingewöhnung. Ähnlich wie die zur Bewegungslosigkeit zwingende Sommerglut ist es jetzt die Milde und das alle Sinne auf- und überfordernde Aufquellen des Seins, welches zur Umstellung einfordert. Jetzt wird gesät, damit vor der großen Hitze noch etwas reift. Jetzt treibt der laue Sonnenschein nach Draußen, erwecken die Eiskristalle am Morgen und der von Stürmen reingewaschene Ozean alle Lebenssinne, kommt alles Angestaute unweigerlich in Fluss und ergießt sich zur großen Vereinigung ins Meer. Kein Stein bleibt auf dem anderen. Und das – mitten im Winter.
Unvorstellbar, dass der Frühling dies noch steigern könnte. Das Ocker, Umbra und tiefe Sepia des Sommers hat sich in ein Irisch-Grün verwandelt, die schroffen und abweisenden Steppen des Hochsommers in die liebreizenden Täler der Golfstromumschmeichelten Inselwelten. Die Luft schmeckt süß und verheißungsvoll, tausend Blümchen säumen die Wege und an jeder Ecke, scheint´s wird gerade ein Lämmchen geboren. Verdichtetes Leben.
Wie anders die Welt ist, überall. Ich denke an die Wälder Amazoniens, in das Dämmerlicht des ewigen Waldes getaucht, triefend vor Nässe und ohne den Taktstock der Jahresgezeiten. An das Land im ewigen Eis, sechs Monate im Jahr dunkel und nur angelegentlich erleuchtet von unkalkulierbarem Feenlicht. An die Wüsten mit ihren Extremen von Glut und Frost im Laufe nur eines einzigen Tages. An das Leben in den Sümpfen und den Höhen des Himalaya, in träger Luft oder solcher von schon überirdischer Klarheit und Präzision.
All diese Gebiete haben Seelenlandschaften hervorgebracht, die voneinander eben so verschieden sind wie die Länder aus Stein, Erde, Wolken und Pflanzen. Wie in den Biotopen der Erde gedeihen auch die Seelen der Menschen auf unterschiedlichem Boden und mit anderen Wettern anders. Die turmhohe Wermoutskiefer der Ardidondaks erhebt sich im Hochgebirge des Himalaya gerade mal eben einen halben Meter über dem Stein, und während Orangenbäumchen in Deutschland nur im Gewächshaus und dank unermüdlicher Pflege wachsen, gedeihen sie im Süden Europas an jeder Straßenkreuzung – zumindest im regenreichen Winter.
Seit ich so nah am Land lebe wie hier, verstehe ich immer besser, warum die meisten der noch existierenden indigenen Völker davon sprechen, dass wir dem Land gehören – und nicht umgekehrt. Stein und Pflanze, Wetter und Wind schreiben ihre Zeichen in unser Sein, füllen unsere Träume und unsere Hoffnungen, tragen unsere Freude und unseren Schmerz, nähren uns leiblich und werden von uns genährt.
Tania Blixen schreibt in „Jenseits von Afrika“: „Wird dieses Land einmal meine Geschichte erzählen?“
Ich schenke dem Boden, der Luft, den unzähligen wachsenden und atmenden Geschöpfen um mich herum meine Geschichte, die Flüssig- und Festigkeiten meines Körpers, Tränen, Pisse und Schweiß, wie jeder Atemzug durchdrungen von dem, was mir das Land an Gedanken, Empfindungen und Gefühlen einschreibt. So verwachsen wir ineinander, immer mehr. Assimilation nennt sich das, glaube ich, und es ist ein Austausch, keine One-Way-Road.
Mitten im Winter also der Aufbruch des Frühlings, das Aufweichen der Erstarrungen, das In-Bewegung-Kommen - um dann weg zu fließen und inne zu halten bei herbstlichem Sturm und - doch auch und endlich – winterlichem Frost. Und während ich mich noch im Von-mir-Geben übe wächst mir schon in unglaublicher Geschwindigkeit, die Frucht meiner Mühen entgegen. Höhe und Fall ineinander. Zeit – was ist das?