Freitag, 16. Dezember 2011

Wi(e)der die Kolonialisierung der Seele

Die Wächterin am Weg zu meinem Haus - umgestürzt in der Luzen-Nacht am 13. Dezember, dem Beginn der Tödin-Zeit - offenbart sie ihre "wahre" Erscheinung. Hekate, die, die in den Bäume wohnt.

Auf meinen letzten Blogeintrag, „In den Zwischenräumen leben“ haben mir erstaunlich viele Menschen geschrieben. Alte Freundinnen, zu denen der Kontakt schon lange eingeschlafen war, Menschen, die sonst eigentlich nicht mit mir kommunizieren und schon gar nicht über so sensible Themen wie die Angst. Aber irgendetwas scheint an dieser zu sein, dass Menschen förmlich zwingt, sich zu äußern, Position zu beziehen. „Hüterin Angst“ heisst sie auch, Schwellenwächterin. Nein, an ihr kommt keinEr vorbei.

Mitgefühl entsteht, Mit-Fühlen, erkennen, wahrnehmen. Da ist etwas Bekanntes, Vertrautes. Aus Mit-Empfinden entsteht der Wunsch, Mit-zu-Teilen. Geteiltes Leid ist halbes Leid, sagt der Volksmund.

Abwehr taucht auf. Da suhlt sich eine im öffentlichem Raum in ihrem Schmerz. Gibt auf. Geht unter. Du bist wohl verliebt in dein Leid, zelebrierst es, dehnst es aus bis on Horizont zu Horizont nichts mehr ist außer dies: Opfertum. Die Kultur der kollektiven Täter verträgt Konfrontation mit den Ergebnissen des eigenen Wirkens schlecht. Wir haben zu glänzen und den Sieg davon zu tragen - auf allen Ebenen.

Beide Reaktionen haben mich verwundert. Nein, mein Schreiben ist kein Schrei der Verzweiflung nach Wahrnehmung. Und nein, ich fühle mich nicht als Opfer, auch wenn die Angst auch das Resultat einer Opferung ist. Und ja, ich finde, wir sollten uns vergegenwärtigen, was und welche wir opfern. Und nein, es geht mir nicht um die Vernichtigung der Angst. Es geht mir um die Ent-Kolonialisierung meiner Empfindungen, meines lebendigen Leibes und Lebens.

Am Anfang war das Dunkel. Und dann kam das Licht. Zerriss die Stille und brachte ein Ei hervor. Das auch zerbrach - und heraus purzelten all die Erscheinungen der Welt. Und oben und unten, rein und befleckt waren geschaffen. So einfach ist das in fast allen neuzeitlichen (!) Schöpfungsmythen der Welt. Speziell an unserer, patriarchal gefärbten Kultur(en) ist, dass das „Unreine“ stets das Leibliche/Weibliche ist während rein und unbefleckt nur das Oben ist, und in diesem Falle natürlich männlich noch dazu. Wie gut, dass das „Oben“ noch dazu der Berührbarkeit entzogen ist. Als leibliche Wesen, angewiesen auf die körperliche Erfahrbarkeit, können wir nur glauben, was uns übers „Oben“ berichtet wird. Von den Erleuchteten, die seiner Makellosigkeit teilhaftig sind. Eben weil sie die Anbindung an die Leiblichkeit scheinbar überwunden haben. Alles strebt zum Licht.

Aber ich komme aus dem Dunkel. Aus dem warmen, feuchten und nährenden Leib meiner Mutter. Wie das Gras und die Bäume, tief verwurzelt in dem, was einEr nicht sehen kann. Und von dem wir doch alle wissen, wie es sich anfühlt.
Jeden Abend versinkt die Sonne hinter dem Horizont, das Licht schwindet - und plötzlich wird deutlich, dass wir da die ganze Zeit in einer Blase geschwommen sind, blauviolettgrünweißrotrosaschillernd, doch drumherum ist nach wie vor - Dunkel. Samtschwarze Nacht, nur hie und da gesprenkelt mit Lichtpunkten, Sternen, von denen die meisten schon verloschen sind. Ihr Licht, eine Erinnerung aus der Vergangenheit, eine Vision der Zeitlosigkeit der Schöpfung. Jetzt, eben und nachher fallen in Eins, fallen ins Dunkle, sind in ihm aufgehoben, eingebettet.

Um uns Dunkel. Und in uns Dunkel. Mehr als Dreiviertel unserer Oberfläche ruhen im ständigen Dunkel. Ach, was sage ich, Neun-Zehntel. Im warmen, lichtlosen Gluckern und Schmatzen des Leibes. Licht, das braucht eigentlich bloß meine Netzhaut, selbst meine Haut schützt sich, instinktiv, wenn zu viel Licht einfällt. Die Wärme des Lichtes, ja - aber heisst das, dass das Dunkle kalt ist?

Seit ich in Portugal lebe, weiß ich, dass das Dunkle selten völlig schwarz ist. Seit ich an 330 Tagen und Nächten draußen lebe, ist mir die Nacht, das Dunkle vertraut geworden. Die beredte Stille. Das lichte Schwarzgrauviolettgrünblauweißumbraocker .... . Die Stimmen der Nachttiere. Die Landschaft in ihrem Wärmekleid. Und es braucht nur wenige Nächte im Haus und schon geht diese Vertrautheit wieder verloren. Von Innen durch die doppel-verglasten Fenster her betrachtet, bei elektrischem Licht sitzend ist die Nacht nur schwarz, abweisend und bedrohlich. Es ist dieses Licht, dass dem Dunkel die Heimat abspricht. Das es uns fremd und vor allem „anders“ er-"scheinen“ lässt.

Weil ich das weiß, weil ich es an meinem Leib und in meinem Stoffwechsel erfahren habe, weiß ich, dass es sich mit dem Dunkeln in unserer Seele genauso verhält. Erst der „Schein“ des industrialisierten Lichtes, des „Funktionierens“ und der Denkungsweise des „Arbeitens“ macht das Dunkle, die Heimat unserer Seele zur allumfassenden Schwärze - wobei mir die Farbe die Verwendung in diesem Zusammenhang verzeihen möge - noch weiß ich kein besseres Wort.

Schwarz ist die Angst, dunkel greift sie nach dem Licht unserer Seele - so oder ähnlich lauten die Beschreibungen. Sumpfig, faulig ist ihr Terrain, voller stinkender, verrottender Emotionen. Tod und Verderben folgen ihr auf dem Fuße, nichts, was sie berührt, bleibt unversehrt.

Eine Freundin schrieb mir vom inneren Bild ihrer Angst: Ein kleines, verwildertes und verwahrlostes Mädchen, mit schmutzigen Kleidern und verfilztem Haar, alleine hockend in der Dunkelheit auf einem Felsen überm tosenden Meer. Besser könnte es einEr nicht beschreiben.

Mit meiner Angst lebend und mich mit ihr vertraut machend, offenbart mir, dass sie die Hüterin meiner Wildheit ist. Jener Aspekte in mir, die nach wie vor undomestiziert und dank ihrer Verborgenheit, Widerborstigkeit und Unzähmbarkeit unkolonialisiert sind. Es sind die „Primitiven“, die sich den Verlockungen von Bildung für alle, Fressen bis zum Umfallen, Coca-Cola, Levis-Jeans und Sneakers gegenüber unbeeindruckt zeigen. Das, was es da zu wissen gäbe, ist uninteressant weil nicht spürbar. Das, was es da zu essen gäbe, macht nicht satt. Und die Kleidung verkleidet lediglich, was die samtschwarze Nacht und den funkelnden Tag fühlen will. Die Erde unter den bloßen Füßen.

Wenn ich schreibe, ich kenne kein Gegenmittel gegen die Angst, dann ist das Aufgabe. Aufgabe eines Kampfes gegen die Aspekte des Lebendigen, die nicht „funktionieren“. Und Hinnahme. Des Geschenkes eines nach wie vor, trotz aller Morde lebendigen Lebens, das sich nicht abspeisen lassen will.

„Natürlich“ fürchte ich die Angst - weil sie mir in die Haut schreibt, wo ich schon abgestorben bin. Das schmerzt - doch plötzlich dann das Wissen - was schmerzt kann noch nicht ganz tot sein! Ist der Tod etwa doch nicht so ultimativ, so endgültig wie ich zu glauben gelernt habe? Ist es die schwarze Alte, Mutter Tödin, die Tod-im-Leben und Leben-im-Tod Göttin, die da sitzt in dunklen Teil meiner Seelenlandschaft und mir zuraunt: Glaube nicht alles, was du siehst? Nicht alles, was glänzt, ist gold!

Man hat mich gelehrt, dass das Leben feindlich ist. Dass ich mich schützen muss, um zu überleben. Dass es ein richtiges, ein „gefälliges“ (!) Leben gibt und ein falsches, ein „gefallenes“ (!). Das eine verheißt Belohnung, das andere Strafe. Dennoch: Richtig bin ich, wenn ich gefalle. Oder auch auf die Täuschungen herein. Falle.

Auf jeden Fall - eine Falle. Und wie jedes lebendige Tier nage ich mir seither das Teil ab, das in Gefangenschaft geraten ist. In der Hoffnung, dann zwar versehrt, aber wieder frei zu sein.

Wächterin Angst zeigt mir den Schmerz dieser Selbstverstümmelung. Und den Mut und die Kraft die dennoch auch dort sind. Einen Teil zu opfern für das Überleben des Ganzen.

Meine Freundin schreibt, es geht um die Zuwendung der Erwachsenen zu diesem wilden, ungezähmten Kind. Um Unabhängig zu werden von der Zuwendung der anderen, Außen. Doch ich frage mich: WelchEr ist denn da „erwachsen“? Müssten wir nicht vielmehr sprechen von denen, die „entwachsen“ sind? Warum erscheint die Wächterin Angst fast immer in unserer kindlichen Gestalt? Weil sie so hilflos ist, so angewiesen, so abhängig? Hätte sie dann wirklich so lange überlebt?

Ich befürchte, die Trennung der eigenen Seelenlandschaft in „Kindlich/Kindisches“ und „Erwachsenes“ ist nur ein weiterer Versuch, die Sache unter Kontrolle zu bringen. Auch die Missionare und Entwicklungshelfer gingen/gehen an die so genannten „Primitiven“ wie an Kinder heran, unvollkommene Erwachsene eben, für die Sorge getragen, die „erzogen“ werden müssen. Wenn wir dem zustimmen, machen wir uns zu Mithelfern unserer eigenen Kolonialsisierung und der anschließenden Ausbeutung unserer freien Seele.

Die Wächterin Angst trägt das Gesicht eines Kindes, weil ich nur noch durch dieses Bild zu erweichen bin. „Kindheit“, das ist das sentimentale Reservat eines verkitschten Bildes von Heilsein. Verdrängungsort all unserer Sehnsüchte. Das Kindchen-Schema löst unser versteinertes Herz, unsere Brieftaschen und unser Mitgefühl.

Die Wächterin Angst ist klug und über alle Klischees erhaben. Sie nutzt, was ihr zur Verfügung steht. Sie zeigt sich uns im Bild des hilflosen Kindes, damit wir ertragen können, was wir da sehen. Damit unser Leib erwacht, unsere Wasser zu fließen beginnen, wir wieder fühlen, was es zu fühlen gibt: Dieses da, was uns angeboten wird und wurde, ein „er-ent-wachsenes“ Leben - ist ein Verrat. Ein Verrat an unserem Geburts-“Recht“, dass Leben ganz und gar zu besitzen/bestehen/erfahren. Wir können ihm nicht entgehen. Wir können es nur so lange verdrehen, bis es unkenntlich geworden ist.

Ich habe meine Angst eingeladen, sich ihrer wahren Gestalt zu offenbaren. Ich habe versprochen, sie/mich nicht zu (ver-)trösten. Ich habe mich bereit erklärt, zu empfinden, was es zu empfinden gibt. Zu hören, damit ich fühlen kann. Deshalb kenne ich - zum Glück - kein Gegenmittel.

Noch traut sie mir nicht wirklich über den Weg. Noch springt sie mich an, in den kalten Morgenstunden, in der Dämmerung, in den Zeiten dazwischen. Wie Mantren flüsternd offenbart sie mir meine einbrannten Glaubenssätze: Ohne Erfolg bist du nichtig, ohne Geld wirst du vergehen, ohne Gesellschaft vereinsamen. Du bist nicht, wenn dich keinEr sieht. Wenn kein Licht eines anderen Bewußtseins auf deine Schatten fällt. Suche nach Erleuchtung, und du wirst dieses Leben verlieren.

Inzwischen wache ich dann ganz auf und lausche ihr. Spüre ihrem Zerren und Ziehen in meinem Körper nach. Wo wird es mir eng, was beginnt zu surren und flirren wie zartester Flügelschlag unter der Haut? Welchen Tanz tanzt mein Herz im Überspringen von Rhytmen, im Aussetzen? Und mein Atem?

Die Seele ist ein Schwarm, sagen die Yoruba. Sie flattert mal hierhin, mal dorthin. Sie ist neugierig und schreckhaft. Sie ist hier - und schon fort.

Die Mitochondrien sind die Grenzen der Zellen, Schwellenland, Hüterinnenheimat. Sie werden lebendig nur von Mutter auf die Tochter vererbt. Bei Männern sind sie inaktiv. Meine Ahninnenreihe, in jeder lebendigen Zelle meines eingeborenen Leibes. Voller Ahnung, Wissen, das sich nicht ohne weiteres offenbart, in Worte fassen lässt. Hier wohnt die Angst, Begleiterin von Frauengeneration zu Frauengeneration. Meine Angst ist auch die Angst meiner Mutter, ihrer Mutter, deren Mütter. Sie gab mir Form. Gestalt. Mein Leib ist meine Seele, meine Seele mein Leib, untrennbar. Sie hütet diesen Schatz, indem sie mich die Vernichtung zu wissen schaut im Dunkeln. Ihre Freierfüsschen. Ihre Gutsle. Ihre Genüsse. Sie sagt: Dies ist nicht durchzustehen - und stellte mich auf tönerne Füsse.

„Doch“, sagte Frieda Kahlo, „wofür brauche ich Füsse, wenn ich Flügel habe!?“


Donnerstag, 8. Dezember 2011

In den Zwischenräumen leben



Langsam, sehr langsam beginnt Verstehen sich durchzuringen. Endlich innehalten, endlich gewahr werden, endlich - was? Aufgeben?

Ein Leben lang auf der Flucht. Vor diesem Gefühl in der Brust, das sich bevorzugt in Herbst und Winter einstellt, wenn die Nebel fallen, alles Leben sich dem Kern zuwendet, Stille einzieht und Langsamkeit. Wenn die schillernden Attraktionen des Sommers verblassen, wenn Abenteuer zu Geschichten werden, am Kamin erzählt. Zu Erinnerungen gerinnen, ein ums andere Mal hervorgezogen aus dem Denkraum, nachgeschmeckt, hin und her gewendet am Gaumen - wenn es doch immer so gewesen sein könnte.

Wenn das Leben eine einzige Abfolge von wundersamen, außerordentlichen Ereignissen sein könnte. Eines herausragender, umwerfender als das andere. Damit Lebendigkeit gespürt, Ekstase erfahren werden kann - das Elexier des echten, des einzig wahren Lebens.

Doch der Alltag ist grau. Die Versprechungen der Kindheitsgeschichten, dass Eine durch fremde Lande ziehen wird, die drei Blutstropfen der Mutter als Schutz am Busen, von Begegnungen mit Hexen und Prinzen, goldenen Gänsen am Wegesrand und gedeckten Tischen - sie alle entpuppen sich schließlich als aus Zelluloid gemacht, dem schonungslosen Lichte ausgesetzt bald verblassend, blasenwerfend, bis sie schließlich sogar dem Projektor den Garaus machen. Sie werden auch durch die ständige Wiederholung nicht wahrer, die Versprechen von allumfassender Liebe, unbegrenzten Möglichkeiten und dem Recht auf die Erfüllung sämtlicher Wünsche und Bedürfnisse. Nein, ich bin keine versehentlich als Baby vertauschte Königstochter, kein doppeltes Lottchen und auch nicht die, der sich am 11ten Geburtstag magische Befähigungen offenbaren. Ich bin und bleibe einfach nur - ich.

Dieses kleine ins Leben geworfene Bündel aus Fleisch, Fühlen, Wissen-Wollen, Sehnsucht, Angst, Freude - und all der anderen, tausendfach gespiegelten Empfindungen und Emotionen. Ein Stoffwechsel im Stoffwechsel, ständig im Wechsel.

Ich weiß nicht, ob es allen Menschen so geht. Aber in meiner Brust, da wohnt sie, diese ständig nagende Furcht. Das mir morgen der Himmel auf den Kopf fiele und ich in der Gosse lande. Dass ich mich plötzlich sterbend einem allwissenden, kontrollierenden, urteilendem Wesen gegenüber sähe welches verdammt noch mal nichts anderes zu tun hat als mich zu fragen, was ich denn aus all den mir mitgegebenen Gaben so gemacht hätte? Nichts? Wie bedauerlich - ab ins Fegefeuer.

Ja, ich weiß: Angstbilder, genährt aus einer f(r)u(r)chtbaren christlichen Gehirnwäsche. Aber selbst wenn ich Gott und das Fegefeuer abziehe, bleibt da diese grundlegende Versagensangst. Das Klassenziel des Lebens verpasst zu haben. Als Einzige.

Es ist die Angst, nicht WIRKLICH zu leben - ohne einen blassen Schimmer davon zu haben, was das denn wäre. Die Angst vor Einsamkeit inmitten tausender glücklich Verbundener. Vor dem Schweigen, der Übermacht des eigenen Schattens. Eigentlich bin ich kläglich, geizig, gehässig und geil. Und alle können es sehen.

Vor über einem Jahr bin ich davongerannt: Diesem beklemmenden Gefühl, dass mein Leben einfach nur so ereignislos dahinrinnt. Der Angst, mein Schatten könnte mich einholen und alles, was ich schon immer hinsichtlich meiner völlig wahren Unzulänglichkeit befürchtet hatte, könnte wie Pech auf mich niederregnen. Ich dachte, wenn ich nur schnell genug laufe, anderswo hingehe, dorthin, wo das Leben tobt, die Ereignisse sich überschlagen und ungezählte Begegnungen auf mich warten, dann würde endlich Weite einziehen in meine Brust. Dann würde ich dieses Gefühl von Vergeblichkeit abschütteln können.

Heute sitze ich hier in diesem Häuschen, mitten im Nirgendwo und stelle fest - es hat nicht funktioniert. Weder ist das Leben hier grundlegend anders als anderswo, noch hat sich an dieser hartnäckig auf meinen Spuren wandelnden Angst etwas getan.

Und die Reaktionen sind auch wieder die selben: Verstecken möchte ich mich, irgendwo ins Nirgendwo abtauchen. Unsichtbar werden - vielleicht weil ich hoffe, die Angst würde mich dann nicht finden? Zweigeteilt mein Geist, Sehnsucht nach bedeutenden Erlebnissen hüben, Wunsch zu verschwinden drüben. Doch nach und nach sind alle Fluchtwege versperrt.

Langsam beginne ich zu verstehen, dass sie es ist, der ich mich zuwenden muss. Sie wird mich nicht „auslassen“, sie wird mir solange und immer mehr zusetzen, dass verstehe ich jetzt. Und es gibt keinen Ort an den ich gehen könnte, nirgends.

Nein, ich habe keinen Bestseller geschrieben. Kein Mittel gegen den Krebs gefunden, keine sensationell neue Entwicklung in der Kunst initiiert, kein weltenverbesserndes Friedensprojekt gegründet. Ich werde wohl weder den Pulitzer-Preis für mein Lebenswerk erhalten noch den Nobelpreis für Physik. Ich werde nicht herausragen aus der Menge der ganz gewöhnlichen Menschen. Im Außen gibt es nichts für mich zu tun - trotz all der Gaben, die anscheinend in diese Richtung weisen.

Heute erkenne ich mehr und mehr, dass meine Aufgabe vielleicht lediglich darin besteht, diesen inneren Gartenzaun einen Millimeter weiter zu verschieben. Etwas Land zu gewinnen da, wo wir alle flüchten, weil der Boden zu heiss ist. Nicht eben spektakulär. Aber wahrscheinlich bedeutsam. Und vielleicht wird es auch nur für mich Bedeutung haben.

Die Kunst ist, die Befürchtungen aufsteigen zu lassen, sie nicht mehr zu bekämpfen, sie Raum einnehmen zu lassen, doch ohne sich an sie zu binden und fälschlicherweise zu nähren. Dem zugewendet, erscheinen Bilder eines verkrampften, zusammengekauerten Wesens, uralt und zeitlos. Um es herum ist nichts, doch harrt es der Schläge, deren Ausbleiben es nicht zu registrieren scheint. Erstarrt in einer nutzlos gewordenen Schutzhaltung und Abwehr. Nicht hinschauen. Nicht hinfühlen, da ist nur Schmerz. Es könnte entdeckt werden, dass es da ist. In all seiner Jämmerlichkeit, mit all den schrecklichen Dingen, die es getan und unterlassen hat. Auf Vergebung kann nicht gehofft werden. Die Entdeckung des Makels ist unausweichlich. Und die darauf folgende Vernichtung.

Was soll ich nur tun, was soll ich nur tun, ohne Zuhause, ohne Rückzugsort, an den mir keiner folgen kann!? Den Gewalten, Elementen und vor allem der Willkür anderer ausgesetzt stehe ich da, schutzlos, Heimatlos, ohne Fluchtpunkt, die Perspektive ausgelöscht, unter mir zerbröckelnder Staub. Panik steigt auf, und wieder nimmt der Leib ganz von selbst diese Haltung ein, krümmt sich in sich selbst, zieht sich ein wie eine Schnecke, die Angriffspunkte verkleinern, Augen feste zusammengepresst, nichts mehr sehen, nichts mehr fühlen, verschwinden. Jeder Muskel, jede Faser angespannt bis zum Zerreissen, ein äußerer Panzer aus Furcht.

Ich habe kein Gegenmittel gegen die Angst. Furcht ist einfach nur Furcht. Sie ist nicht tapfer, nicht erhaben, sie läutert nicht und hebt eine nicht heraus. Sie ist ein Knoten verschlungener Dinge ganz am Boden des Grundes. Ich - das ist eine Projektion all der Dinge, Eigenschaften, die gerne währen, Gegenmittel, Antidote der Angst. Die Mutige. Die Entschlossene. Sogar das Hervorzeigen-können dieses Angstknotens gehört zur Illusion. Heutzutage kennt eine ihren Schatten und wirft in furchtlos.

Angst, sagt der Buddhismus, ist das Tor zum Mitgefühl.
Angst ist der Schatten, der zur Ganzheit integriert werden muss, sagt die New-Age-Psychologie.
Angst ist Angst ist Angst - sagt die Angst.

Ich habe kein Gegenmittel. Ich kann sie nicht mildern noch mindern. Sie geht nicht weg, nicht durch Zusammensein mit anderen Menschen, nicht im Gebet, an keinem Sommertag im leuchtensten Sonnenschein inmitten des aufregensten Abenteuers, welches das Leben zu bieten hat. Alles, was ich beobachten kann, ist, dass sie wachsen kann, sich aufblähen und ausweiten von Horizont zu Horizont, so dass nichts anderes bestehen kann neben ihr - oder dass sie schrumpft, auf einen winzig kleinen, harten Kern in der Mitte der Dinge, gefangen im Satz: Was wäre, wenn ...? Aber da, da ist sie immer.

Ich denke, sie ist der Preis dafür, dass wir das Ganze, was auch immer das meint, die tiefe, selbstverständliche Bindung zum Leben verlassen haben, um dieses fragile, wackelige kleine „ich bin“ hervorzubringen. Wir können die Verbindung noch spüren, eine hauchzarte Brücke ist da noch, und die Angst besteht darin, sie könnte reissen. Und wir treiben ab ins Unendliche, ohne Wissen um das wie zurück.

Und ich glaube auch nicht, dass es ein Zurück gibt. Wir können nur weiter - nach vorne, oder nach rechts, links, oben, unten, in diese oder jene Dimension. Wir können dieses „Ich bin“ nur weiter entfalten, es möglicherweise wieder beschneiden, da wo wir unkontrolliertes Wuchern gewahr werden. Und die Angst, dieser klitzekleine Kern von Ertappt werden, zur Rechenschaft gezogen werden für dieses maßlose Vergehen, den Fuß vor die Türe des gemeinsamen Kollektiven gesetzt zu haben, er wird uns vielleicht anleiten, eine Sonde sein, die uns den Weg weist.

Möglicherweise haben wir Gottes Plan für uns Menschen verworfen. Überschritten. Vom Baum der Erkenntnis gegessen. Das Paradies verloren. Aber Gott gibt es nur in uns, was ihn oder sie oder es natürlich nicht weniger, sondern eher mehr wirklich macht. Den Zorn, die Vergeltung. Die es auch nur gibt, weil es uns gibt. Mich. Ich. Ich schaue mir ins Antlitz und erkenne meine Unvollkommenheit. Gott ist fehlbar. Furchtbar.

Meine Heimat ist dahin. Ich habe kein Zuhause mehr. Jetzt richte ich mich in den Übergängen ein. In der Diele, auf der Schwelle. Gleich werde ich weiterziehen müssen. Hier ist kein Verharren. Es sucht mich. Und ich eile ihm gelegentlich entgegen.