Mittwoch, 15. Februar 2012

Der Morgen



Wir haben ein Lied über den Fluss. Den Fluss, der fließt und wächst, und dem Meer zugetragen wird. Es soll ein beruhigendes Lied sein, voller Zuversicht und Vertrauen, denn darin heisst es auch, es sei der Fluss, der uns trägt. Doch weiß der Fluss das? Kennt der Fluss seinen Weg, sein Ziel? Und wird er, am Ende sich ins Meer ergiessend (denn das zu wissen ist es, was wir ihm voraus haben), erkennen, dass es dieses ist?
Wird er frohlocken, singen, sich voller Freude hingeben? Oder wird er das Ende seines langen Weges bedauern, voller Trauer zurückblicken auf Quelle, Fälle, Gebirge und Stein, sanfte Mündungen, Ufer voller Weiden und Narzissen? Und die Bilder, schimmernde Spiegelungen auf seiner nimmer ruhenden Oberfläche, die tausend geflüsterten Geschichten, all den Schweiß und Urin den er fort gewaschen, all die Tränen, die er gesammelt, all die Leidenschaft, die er mit seinen Armen umfangen hat - werden sie mit ihm vergehen? Und wird es eine Gnade sein, all diese Last weiterzugeben - oder ein Fluch?

Der Morgen kommt mit beissender Klarheit. Wie Lanzen stechen die Strahlen der aufgehenden Sonne in das noch im Dämmerlicht liegende Zimmer, reißen Einzelheiten hervor aus einem verschwimmenden Hintergrund. Die Armreifen aus Silber, Trauergeschenk. Perlen und Knöpfe wie erstarrt. Staubglimmer in der Luft, ineinander geschachtelte Universen in diesem, das uns einzig erscheint.
Mein Körper, noch warm unter den Decken. Ja, noch ist er da. Unter der Haut der flimmernde Schlag des Blutes, das Stöhnen und Ächzen der Winde darüber. Und ja, der Schmerz auch, lässt mich wissen, es ist hier wo ich bin. Wiedergefunden nach einer Reise durch fremde Häuser und Wohnungen, deren Möbel ich im Traum immer wieder und wieder neu arrangiere, umstelle, solange bis kein Durchkommen mehr ist. Etwas in mir sucht nach einer Ordnung, die verloren ist. Und was mir im Traum nicht gelingt, wird es mir hier, auf dieser Seite, in einem Körper, noch schwer von der nächtlichen Arbeit, wird es mir gelingen, mit diesen Händen, denen all die getanen und unterlassenen Taten sich so unweigerlich eingeschrieben haben, tief und tiefer?

Gezeter reißt mich aus Gedanken, von denen ich längst weiß. dass sie zu nichts taugen. Das morgendliche Konzert der Vögel, Amseln, Spatzen, hunderte Arten von Finken und darunter das Gesurre der türkischen Tauben. Als ich vor die Tür trete, kreist ein Rabe übers Haus, dreimal, kolkt mir seinen Schrei entgegen. Zauberbote, Begleiter von Hexen und Ausgestoßenen. Da weiß ich, dieser Tag wird den Worten gehören, und wieder der Einsamkeit.

Worte und Einsamkeit. Kaum kann ich die Buchstaben voneinander trennen, noch schwerer das Gewicht ihrer Eigenheit.

W
O
R
T
E

E
I
N
S
A
M
K
E
I
T

ORTE ROTE WO SAMEN KEIM SORTE WEITE WEINE WIRT TIERE TORTE ENTKAM ATEM KRISE SEIN WARTE MASKE KNIE  STEIN ART START REIN AMEN NAME MEIN STREIT.

Ein ganzes Universum in zwei Worten. Wo der rote Samen keimt. Trost und Verdammnis zugleich, Geschenk und Fluch diesem Körper mitgegeben, der schon zerschlagen war, bevor das Leben Hammer und Meißel ansetzte, so, wie es das immer tut. Nicht von der Sorte, die Weite zu beweinen. Nein, Weite war nicht das Problem. Sie war da drinnen, immer, selbst, als dieser Leib bandagiert, aufgeschnitten und für Jahre in Gefängnisse aus zerbrochenen Knochen und Gips gesperrt wurde. Direkt hinter den geschlossenen Lidern, nur ein Zittern und einen Atemzug entfernt. Fluchtpunkt. Der Krise entkommen. Steinhart unter der Maske des duldsamen Wirtes wurde mein Name Streit. Von der Art der Steine. Unnachgiebig, wie tot. Der Schein, aufgelegt für die Achtlosen die Lebendigkeit verschleuderten wie lautes Gebrüll.

Doch wie unter der glatten Schale des Samenkorns schlief unter der abweisende Spröde ein Herz. Äonenweiter Rhytmus, nicht vernehmbar im flüchtigen JETZT. Warte, mein Herz, habe Geduld. Schlage, mein Herz, zerschlag das Gebein. Verharre in Lautlosigkeit, stiller Same rot und labe dich an dem, was ist. Einsamkeit. Denn das Wasser wird kommen und dich erweichen. Der Fluss wird fließen, einst, hier in dieser Wüste. Ich kann ihn fast schon riechen. Geh auf die Knie. Lege dein Ohr an die Erde. Hülle dich in die Geste der Demut, mache dich unsichtbar darin. Damit sie zu dir kommen können, die Worte.

Dennoch hat es Jahre, Jahrzehnte gedauert, bis ich diese Magie verstanden habe. Tiekma sni´e etro-w. Nichts war da, am Anfang, und davon soviel, dass es sich bis heute in Schwärze hüllt. Wie der Rabe, der jetzt wieder über meinem Haus kreist, diesem geliehenen Unterschlupf für mein im Übergang befindliches Sein. Sein Geschrei ruft mich zurück aus der Falle, die das Versinken in längst Vergessenem ist. Schmiede die Lanze, solange das Feuer brennt. Hole sie heraus aus dem Feuer, die glänzenden, diamantenen Worte, verführerisch und doch abweisend wie Glas. Schärfe ihre Kanten. Bohre sie in das Fleisch des Selbstmitleids, in die Täuschungen von Auge und Herz. Berge ihn, den roten Samen, und werfe ihn in den Fluss. Jetzt.