Freitag, 16. Dezember 2011

Wi(e)der die Kolonialisierung der Seele

Die Wächterin am Weg zu meinem Haus - umgestürzt in der Luzen-Nacht am 13. Dezember, dem Beginn der Tödin-Zeit - offenbart sie ihre "wahre" Erscheinung. Hekate, die, die in den Bäume wohnt.

Auf meinen letzten Blogeintrag, „In den Zwischenräumen leben“ haben mir erstaunlich viele Menschen geschrieben. Alte Freundinnen, zu denen der Kontakt schon lange eingeschlafen war, Menschen, die sonst eigentlich nicht mit mir kommunizieren und schon gar nicht über so sensible Themen wie die Angst. Aber irgendetwas scheint an dieser zu sein, dass Menschen förmlich zwingt, sich zu äußern, Position zu beziehen. „Hüterin Angst“ heisst sie auch, Schwellenwächterin. Nein, an ihr kommt keinEr vorbei.

Mitgefühl entsteht, Mit-Fühlen, erkennen, wahrnehmen. Da ist etwas Bekanntes, Vertrautes. Aus Mit-Empfinden entsteht der Wunsch, Mit-zu-Teilen. Geteiltes Leid ist halbes Leid, sagt der Volksmund.

Abwehr taucht auf. Da suhlt sich eine im öffentlichem Raum in ihrem Schmerz. Gibt auf. Geht unter. Du bist wohl verliebt in dein Leid, zelebrierst es, dehnst es aus bis on Horizont zu Horizont nichts mehr ist außer dies: Opfertum. Die Kultur der kollektiven Täter verträgt Konfrontation mit den Ergebnissen des eigenen Wirkens schlecht. Wir haben zu glänzen und den Sieg davon zu tragen - auf allen Ebenen.

Beide Reaktionen haben mich verwundert. Nein, mein Schreiben ist kein Schrei der Verzweiflung nach Wahrnehmung. Und nein, ich fühle mich nicht als Opfer, auch wenn die Angst auch das Resultat einer Opferung ist. Und ja, ich finde, wir sollten uns vergegenwärtigen, was und welche wir opfern. Und nein, es geht mir nicht um die Vernichtigung der Angst. Es geht mir um die Ent-Kolonialisierung meiner Empfindungen, meines lebendigen Leibes und Lebens.

Am Anfang war das Dunkel. Und dann kam das Licht. Zerriss die Stille und brachte ein Ei hervor. Das auch zerbrach - und heraus purzelten all die Erscheinungen der Welt. Und oben und unten, rein und befleckt waren geschaffen. So einfach ist das in fast allen neuzeitlichen (!) Schöpfungsmythen der Welt. Speziell an unserer, patriarchal gefärbten Kultur(en) ist, dass das „Unreine“ stets das Leibliche/Weibliche ist während rein und unbefleckt nur das Oben ist, und in diesem Falle natürlich männlich noch dazu. Wie gut, dass das „Oben“ noch dazu der Berührbarkeit entzogen ist. Als leibliche Wesen, angewiesen auf die körperliche Erfahrbarkeit, können wir nur glauben, was uns übers „Oben“ berichtet wird. Von den Erleuchteten, die seiner Makellosigkeit teilhaftig sind. Eben weil sie die Anbindung an die Leiblichkeit scheinbar überwunden haben. Alles strebt zum Licht.

Aber ich komme aus dem Dunkel. Aus dem warmen, feuchten und nährenden Leib meiner Mutter. Wie das Gras und die Bäume, tief verwurzelt in dem, was einEr nicht sehen kann. Und von dem wir doch alle wissen, wie es sich anfühlt.
Jeden Abend versinkt die Sonne hinter dem Horizont, das Licht schwindet - und plötzlich wird deutlich, dass wir da die ganze Zeit in einer Blase geschwommen sind, blauviolettgrünweißrotrosaschillernd, doch drumherum ist nach wie vor - Dunkel. Samtschwarze Nacht, nur hie und da gesprenkelt mit Lichtpunkten, Sternen, von denen die meisten schon verloschen sind. Ihr Licht, eine Erinnerung aus der Vergangenheit, eine Vision der Zeitlosigkeit der Schöpfung. Jetzt, eben und nachher fallen in Eins, fallen ins Dunkle, sind in ihm aufgehoben, eingebettet.

Um uns Dunkel. Und in uns Dunkel. Mehr als Dreiviertel unserer Oberfläche ruhen im ständigen Dunkel. Ach, was sage ich, Neun-Zehntel. Im warmen, lichtlosen Gluckern und Schmatzen des Leibes. Licht, das braucht eigentlich bloß meine Netzhaut, selbst meine Haut schützt sich, instinktiv, wenn zu viel Licht einfällt. Die Wärme des Lichtes, ja - aber heisst das, dass das Dunkle kalt ist?

Seit ich in Portugal lebe, weiß ich, dass das Dunkle selten völlig schwarz ist. Seit ich an 330 Tagen und Nächten draußen lebe, ist mir die Nacht, das Dunkle vertraut geworden. Die beredte Stille. Das lichte Schwarzgrauviolettgrünblauweißumbraocker .... . Die Stimmen der Nachttiere. Die Landschaft in ihrem Wärmekleid. Und es braucht nur wenige Nächte im Haus und schon geht diese Vertrautheit wieder verloren. Von Innen durch die doppel-verglasten Fenster her betrachtet, bei elektrischem Licht sitzend ist die Nacht nur schwarz, abweisend und bedrohlich. Es ist dieses Licht, dass dem Dunkel die Heimat abspricht. Das es uns fremd und vor allem „anders“ er-"scheinen“ lässt.

Weil ich das weiß, weil ich es an meinem Leib und in meinem Stoffwechsel erfahren habe, weiß ich, dass es sich mit dem Dunkeln in unserer Seele genauso verhält. Erst der „Schein“ des industrialisierten Lichtes, des „Funktionierens“ und der Denkungsweise des „Arbeitens“ macht das Dunkle, die Heimat unserer Seele zur allumfassenden Schwärze - wobei mir die Farbe die Verwendung in diesem Zusammenhang verzeihen möge - noch weiß ich kein besseres Wort.

Schwarz ist die Angst, dunkel greift sie nach dem Licht unserer Seele - so oder ähnlich lauten die Beschreibungen. Sumpfig, faulig ist ihr Terrain, voller stinkender, verrottender Emotionen. Tod und Verderben folgen ihr auf dem Fuße, nichts, was sie berührt, bleibt unversehrt.

Eine Freundin schrieb mir vom inneren Bild ihrer Angst: Ein kleines, verwildertes und verwahrlostes Mädchen, mit schmutzigen Kleidern und verfilztem Haar, alleine hockend in der Dunkelheit auf einem Felsen überm tosenden Meer. Besser könnte es einEr nicht beschreiben.

Mit meiner Angst lebend und mich mit ihr vertraut machend, offenbart mir, dass sie die Hüterin meiner Wildheit ist. Jener Aspekte in mir, die nach wie vor undomestiziert und dank ihrer Verborgenheit, Widerborstigkeit und Unzähmbarkeit unkolonialisiert sind. Es sind die „Primitiven“, die sich den Verlockungen von Bildung für alle, Fressen bis zum Umfallen, Coca-Cola, Levis-Jeans und Sneakers gegenüber unbeeindruckt zeigen. Das, was es da zu wissen gäbe, ist uninteressant weil nicht spürbar. Das, was es da zu essen gäbe, macht nicht satt. Und die Kleidung verkleidet lediglich, was die samtschwarze Nacht und den funkelnden Tag fühlen will. Die Erde unter den bloßen Füßen.

Wenn ich schreibe, ich kenne kein Gegenmittel gegen die Angst, dann ist das Aufgabe. Aufgabe eines Kampfes gegen die Aspekte des Lebendigen, die nicht „funktionieren“. Und Hinnahme. Des Geschenkes eines nach wie vor, trotz aller Morde lebendigen Lebens, das sich nicht abspeisen lassen will.

„Natürlich“ fürchte ich die Angst - weil sie mir in die Haut schreibt, wo ich schon abgestorben bin. Das schmerzt - doch plötzlich dann das Wissen - was schmerzt kann noch nicht ganz tot sein! Ist der Tod etwa doch nicht so ultimativ, so endgültig wie ich zu glauben gelernt habe? Ist es die schwarze Alte, Mutter Tödin, die Tod-im-Leben und Leben-im-Tod Göttin, die da sitzt in dunklen Teil meiner Seelenlandschaft und mir zuraunt: Glaube nicht alles, was du siehst? Nicht alles, was glänzt, ist gold!

Man hat mich gelehrt, dass das Leben feindlich ist. Dass ich mich schützen muss, um zu überleben. Dass es ein richtiges, ein „gefälliges“ (!) Leben gibt und ein falsches, ein „gefallenes“ (!). Das eine verheißt Belohnung, das andere Strafe. Dennoch: Richtig bin ich, wenn ich gefalle. Oder auch auf die Täuschungen herein. Falle.

Auf jeden Fall - eine Falle. Und wie jedes lebendige Tier nage ich mir seither das Teil ab, das in Gefangenschaft geraten ist. In der Hoffnung, dann zwar versehrt, aber wieder frei zu sein.

Wächterin Angst zeigt mir den Schmerz dieser Selbstverstümmelung. Und den Mut und die Kraft die dennoch auch dort sind. Einen Teil zu opfern für das Überleben des Ganzen.

Meine Freundin schreibt, es geht um die Zuwendung der Erwachsenen zu diesem wilden, ungezähmten Kind. Um Unabhängig zu werden von der Zuwendung der anderen, Außen. Doch ich frage mich: WelchEr ist denn da „erwachsen“? Müssten wir nicht vielmehr sprechen von denen, die „entwachsen“ sind? Warum erscheint die Wächterin Angst fast immer in unserer kindlichen Gestalt? Weil sie so hilflos ist, so angewiesen, so abhängig? Hätte sie dann wirklich so lange überlebt?

Ich befürchte, die Trennung der eigenen Seelenlandschaft in „Kindlich/Kindisches“ und „Erwachsenes“ ist nur ein weiterer Versuch, die Sache unter Kontrolle zu bringen. Auch die Missionare und Entwicklungshelfer gingen/gehen an die so genannten „Primitiven“ wie an Kinder heran, unvollkommene Erwachsene eben, für die Sorge getragen, die „erzogen“ werden müssen. Wenn wir dem zustimmen, machen wir uns zu Mithelfern unserer eigenen Kolonialsisierung und der anschließenden Ausbeutung unserer freien Seele.

Die Wächterin Angst trägt das Gesicht eines Kindes, weil ich nur noch durch dieses Bild zu erweichen bin. „Kindheit“, das ist das sentimentale Reservat eines verkitschten Bildes von Heilsein. Verdrängungsort all unserer Sehnsüchte. Das Kindchen-Schema löst unser versteinertes Herz, unsere Brieftaschen und unser Mitgefühl.

Die Wächterin Angst ist klug und über alle Klischees erhaben. Sie nutzt, was ihr zur Verfügung steht. Sie zeigt sich uns im Bild des hilflosen Kindes, damit wir ertragen können, was wir da sehen. Damit unser Leib erwacht, unsere Wasser zu fließen beginnen, wir wieder fühlen, was es zu fühlen gibt: Dieses da, was uns angeboten wird und wurde, ein „er-ent-wachsenes“ Leben - ist ein Verrat. Ein Verrat an unserem Geburts-“Recht“, dass Leben ganz und gar zu besitzen/bestehen/erfahren. Wir können ihm nicht entgehen. Wir können es nur so lange verdrehen, bis es unkenntlich geworden ist.

Ich habe meine Angst eingeladen, sich ihrer wahren Gestalt zu offenbaren. Ich habe versprochen, sie/mich nicht zu (ver-)trösten. Ich habe mich bereit erklärt, zu empfinden, was es zu empfinden gibt. Zu hören, damit ich fühlen kann. Deshalb kenne ich - zum Glück - kein Gegenmittel.

Noch traut sie mir nicht wirklich über den Weg. Noch springt sie mich an, in den kalten Morgenstunden, in der Dämmerung, in den Zeiten dazwischen. Wie Mantren flüsternd offenbart sie mir meine einbrannten Glaubenssätze: Ohne Erfolg bist du nichtig, ohne Geld wirst du vergehen, ohne Gesellschaft vereinsamen. Du bist nicht, wenn dich keinEr sieht. Wenn kein Licht eines anderen Bewußtseins auf deine Schatten fällt. Suche nach Erleuchtung, und du wirst dieses Leben verlieren.

Inzwischen wache ich dann ganz auf und lausche ihr. Spüre ihrem Zerren und Ziehen in meinem Körper nach. Wo wird es mir eng, was beginnt zu surren und flirren wie zartester Flügelschlag unter der Haut? Welchen Tanz tanzt mein Herz im Überspringen von Rhytmen, im Aussetzen? Und mein Atem?

Die Seele ist ein Schwarm, sagen die Yoruba. Sie flattert mal hierhin, mal dorthin. Sie ist neugierig und schreckhaft. Sie ist hier - und schon fort.

Die Mitochondrien sind die Grenzen der Zellen, Schwellenland, Hüterinnenheimat. Sie werden lebendig nur von Mutter auf die Tochter vererbt. Bei Männern sind sie inaktiv. Meine Ahninnenreihe, in jeder lebendigen Zelle meines eingeborenen Leibes. Voller Ahnung, Wissen, das sich nicht ohne weiteres offenbart, in Worte fassen lässt. Hier wohnt die Angst, Begleiterin von Frauengeneration zu Frauengeneration. Meine Angst ist auch die Angst meiner Mutter, ihrer Mutter, deren Mütter. Sie gab mir Form. Gestalt. Mein Leib ist meine Seele, meine Seele mein Leib, untrennbar. Sie hütet diesen Schatz, indem sie mich die Vernichtung zu wissen schaut im Dunkeln. Ihre Freierfüsschen. Ihre Gutsle. Ihre Genüsse. Sie sagt: Dies ist nicht durchzustehen - und stellte mich auf tönerne Füsse.

„Doch“, sagte Frieda Kahlo, „wofür brauche ich Füsse, wenn ich Flügel habe!?“


Donnerstag, 8. Dezember 2011

In den Zwischenräumen leben



Langsam, sehr langsam beginnt Verstehen sich durchzuringen. Endlich innehalten, endlich gewahr werden, endlich - was? Aufgeben?

Ein Leben lang auf der Flucht. Vor diesem Gefühl in der Brust, das sich bevorzugt in Herbst und Winter einstellt, wenn die Nebel fallen, alles Leben sich dem Kern zuwendet, Stille einzieht und Langsamkeit. Wenn die schillernden Attraktionen des Sommers verblassen, wenn Abenteuer zu Geschichten werden, am Kamin erzählt. Zu Erinnerungen gerinnen, ein ums andere Mal hervorgezogen aus dem Denkraum, nachgeschmeckt, hin und her gewendet am Gaumen - wenn es doch immer so gewesen sein könnte.

Wenn das Leben eine einzige Abfolge von wundersamen, außerordentlichen Ereignissen sein könnte. Eines herausragender, umwerfender als das andere. Damit Lebendigkeit gespürt, Ekstase erfahren werden kann - das Elexier des echten, des einzig wahren Lebens.

Doch der Alltag ist grau. Die Versprechungen der Kindheitsgeschichten, dass Eine durch fremde Lande ziehen wird, die drei Blutstropfen der Mutter als Schutz am Busen, von Begegnungen mit Hexen und Prinzen, goldenen Gänsen am Wegesrand und gedeckten Tischen - sie alle entpuppen sich schließlich als aus Zelluloid gemacht, dem schonungslosen Lichte ausgesetzt bald verblassend, blasenwerfend, bis sie schließlich sogar dem Projektor den Garaus machen. Sie werden auch durch die ständige Wiederholung nicht wahrer, die Versprechen von allumfassender Liebe, unbegrenzten Möglichkeiten und dem Recht auf die Erfüllung sämtlicher Wünsche und Bedürfnisse. Nein, ich bin keine versehentlich als Baby vertauschte Königstochter, kein doppeltes Lottchen und auch nicht die, der sich am 11ten Geburtstag magische Befähigungen offenbaren. Ich bin und bleibe einfach nur - ich.

Dieses kleine ins Leben geworfene Bündel aus Fleisch, Fühlen, Wissen-Wollen, Sehnsucht, Angst, Freude - und all der anderen, tausendfach gespiegelten Empfindungen und Emotionen. Ein Stoffwechsel im Stoffwechsel, ständig im Wechsel.

Ich weiß nicht, ob es allen Menschen so geht. Aber in meiner Brust, da wohnt sie, diese ständig nagende Furcht. Das mir morgen der Himmel auf den Kopf fiele und ich in der Gosse lande. Dass ich mich plötzlich sterbend einem allwissenden, kontrollierenden, urteilendem Wesen gegenüber sähe welches verdammt noch mal nichts anderes zu tun hat als mich zu fragen, was ich denn aus all den mir mitgegebenen Gaben so gemacht hätte? Nichts? Wie bedauerlich - ab ins Fegefeuer.

Ja, ich weiß: Angstbilder, genährt aus einer f(r)u(r)chtbaren christlichen Gehirnwäsche. Aber selbst wenn ich Gott und das Fegefeuer abziehe, bleibt da diese grundlegende Versagensangst. Das Klassenziel des Lebens verpasst zu haben. Als Einzige.

Es ist die Angst, nicht WIRKLICH zu leben - ohne einen blassen Schimmer davon zu haben, was das denn wäre. Die Angst vor Einsamkeit inmitten tausender glücklich Verbundener. Vor dem Schweigen, der Übermacht des eigenen Schattens. Eigentlich bin ich kläglich, geizig, gehässig und geil. Und alle können es sehen.

Vor über einem Jahr bin ich davongerannt: Diesem beklemmenden Gefühl, dass mein Leben einfach nur so ereignislos dahinrinnt. Der Angst, mein Schatten könnte mich einholen und alles, was ich schon immer hinsichtlich meiner völlig wahren Unzulänglichkeit befürchtet hatte, könnte wie Pech auf mich niederregnen. Ich dachte, wenn ich nur schnell genug laufe, anderswo hingehe, dorthin, wo das Leben tobt, die Ereignisse sich überschlagen und ungezählte Begegnungen auf mich warten, dann würde endlich Weite einziehen in meine Brust. Dann würde ich dieses Gefühl von Vergeblichkeit abschütteln können.

Heute sitze ich hier in diesem Häuschen, mitten im Nirgendwo und stelle fest - es hat nicht funktioniert. Weder ist das Leben hier grundlegend anders als anderswo, noch hat sich an dieser hartnäckig auf meinen Spuren wandelnden Angst etwas getan.

Und die Reaktionen sind auch wieder die selben: Verstecken möchte ich mich, irgendwo ins Nirgendwo abtauchen. Unsichtbar werden - vielleicht weil ich hoffe, die Angst würde mich dann nicht finden? Zweigeteilt mein Geist, Sehnsucht nach bedeutenden Erlebnissen hüben, Wunsch zu verschwinden drüben. Doch nach und nach sind alle Fluchtwege versperrt.

Langsam beginne ich zu verstehen, dass sie es ist, der ich mich zuwenden muss. Sie wird mich nicht „auslassen“, sie wird mir solange und immer mehr zusetzen, dass verstehe ich jetzt. Und es gibt keinen Ort an den ich gehen könnte, nirgends.

Nein, ich habe keinen Bestseller geschrieben. Kein Mittel gegen den Krebs gefunden, keine sensationell neue Entwicklung in der Kunst initiiert, kein weltenverbesserndes Friedensprojekt gegründet. Ich werde wohl weder den Pulitzer-Preis für mein Lebenswerk erhalten noch den Nobelpreis für Physik. Ich werde nicht herausragen aus der Menge der ganz gewöhnlichen Menschen. Im Außen gibt es nichts für mich zu tun - trotz all der Gaben, die anscheinend in diese Richtung weisen.

Heute erkenne ich mehr und mehr, dass meine Aufgabe vielleicht lediglich darin besteht, diesen inneren Gartenzaun einen Millimeter weiter zu verschieben. Etwas Land zu gewinnen da, wo wir alle flüchten, weil der Boden zu heiss ist. Nicht eben spektakulär. Aber wahrscheinlich bedeutsam. Und vielleicht wird es auch nur für mich Bedeutung haben.

Die Kunst ist, die Befürchtungen aufsteigen zu lassen, sie nicht mehr zu bekämpfen, sie Raum einnehmen zu lassen, doch ohne sich an sie zu binden und fälschlicherweise zu nähren. Dem zugewendet, erscheinen Bilder eines verkrampften, zusammengekauerten Wesens, uralt und zeitlos. Um es herum ist nichts, doch harrt es der Schläge, deren Ausbleiben es nicht zu registrieren scheint. Erstarrt in einer nutzlos gewordenen Schutzhaltung und Abwehr. Nicht hinschauen. Nicht hinfühlen, da ist nur Schmerz. Es könnte entdeckt werden, dass es da ist. In all seiner Jämmerlichkeit, mit all den schrecklichen Dingen, die es getan und unterlassen hat. Auf Vergebung kann nicht gehofft werden. Die Entdeckung des Makels ist unausweichlich. Und die darauf folgende Vernichtung.

Was soll ich nur tun, was soll ich nur tun, ohne Zuhause, ohne Rückzugsort, an den mir keiner folgen kann!? Den Gewalten, Elementen und vor allem der Willkür anderer ausgesetzt stehe ich da, schutzlos, Heimatlos, ohne Fluchtpunkt, die Perspektive ausgelöscht, unter mir zerbröckelnder Staub. Panik steigt auf, und wieder nimmt der Leib ganz von selbst diese Haltung ein, krümmt sich in sich selbst, zieht sich ein wie eine Schnecke, die Angriffspunkte verkleinern, Augen feste zusammengepresst, nichts mehr sehen, nichts mehr fühlen, verschwinden. Jeder Muskel, jede Faser angespannt bis zum Zerreissen, ein äußerer Panzer aus Furcht.

Ich habe kein Gegenmittel gegen die Angst. Furcht ist einfach nur Furcht. Sie ist nicht tapfer, nicht erhaben, sie läutert nicht und hebt eine nicht heraus. Sie ist ein Knoten verschlungener Dinge ganz am Boden des Grundes. Ich - das ist eine Projektion all der Dinge, Eigenschaften, die gerne währen, Gegenmittel, Antidote der Angst. Die Mutige. Die Entschlossene. Sogar das Hervorzeigen-können dieses Angstknotens gehört zur Illusion. Heutzutage kennt eine ihren Schatten und wirft in furchtlos.

Angst, sagt der Buddhismus, ist das Tor zum Mitgefühl.
Angst ist der Schatten, der zur Ganzheit integriert werden muss, sagt die New-Age-Psychologie.
Angst ist Angst ist Angst - sagt die Angst.

Ich habe kein Gegenmittel. Ich kann sie nicht mildern noch mindern. Sie geht nicht weg, nicht durch Zusammensein mit anderen Menschen, nicht im Gebet, an keinem Sommertag im leuchtensten Sonnenschein inmitten des aufregensten Abenteuers, welches das Leben zu bieten hat. Alles, was ich beobachten kann, ist, dass sie wachsen kann, sich aufblähen und ausweiten von Horizont zu Horizont, so dass nichts anderes bestehen kann neben ihr - oder dass sie schrumpft, auf einen winzig kleinen, harten Kern in der Mitte der Dinge, gefangen im Satz: Was wäre, wenn ...? Aber da, da ist sie immer.

Ich denke, sie ist der Preis dafür, dass wir das Ganze, was auch immer das meint, die tiefe, selbstverständliche Bindung zum Leben verlassen haben, um dieses fragile, wackelige kleine „ich bin“ hervorzubringen. Wir können die Verbindung noch spüren, eine hauchzarte Brücke ist da noch, und die Angst besteht darin, sie könnte reissen. Und wir treiben ab ins Unendliche, ohne Wissen um das wie zurück.

Und ich glaube auch nicht, dass es ein Zurück gibt. Wir können nur weiter - nach vorne, oder nach rechts, links, oben, unten, in diese oder jene Dimension. Wir können dieses „Ich bin“ nur weiter entfalten, es möglicherweise wieder beschneiden, da wo wir unkontrolliertes Wuchern gewahr werden. Und die Angst, dieser klitzekleine Kern von Ertappt werden, zur Rechenschaft gezogen werden für dieses maßlose Vergehen, den Fuß vor die Türe des gemeinsamen Kollektiven gesetzt zu haben, er wird uns vielleicht anleiten, eine Sonde sein, die uns den Weg weist.

Möglicherweise haben wir Gottes Plan für uns Menschen verworfen. Überschritten. Vom Baum der Erkenntnis gegessen. Das Paradies verloren. Aber Gott gibt es nur in uns, was ihn oder sie oder es natürlich nicht weniger, sondern eher mehr wirklich macht. Den Zorn, die Vergeltung. Die es auch nur gibt, weil es uns gibt. Mich. Ich. Ich schaue mir ins Antlitz und erkenne meine Unvollkommenheit. Gott ist fehlbar. Furchtbar.

Meine Heimat ist dahin. Ich habe kein Zuhause mehr. Jetzt richte ich mich in den Übergängen ein. In der Diele, auf der Schwelle. Gleich werde ich weiterziehen müssen. Hier ist kein Verharren. Es sucht mich. Und ich eile ihm gelegentlich entgegen.

Montag, 21. November 2011

Schweigen im Blogwald



Schon wieder einmal November. Schon wieder einmal ein Jahr fast vorbei. Schon wieder einmal wochenlang kein Sterbenswörtchen - Schweigen hier und Stille im Blog.

Es gibt eine lebendige weibliche Tagebuchkultur, die sich wie ein roter Faden vom hier und heute in die Vergangenheit schreibender Frauen zieht. Virginia Woolf. Silvia Plath. Susan Sontag. Ganz unterschiedliche Welten, ganz unterschiedliche Lebens- und Schreibstile und doch der allem gemeinsame Wunsch, dem Alltag den Spiegel vorzuhalten, die eigene Seele zwischen Kindern und Küche, Teestunden und Treffen, Wollen und Wunsch aufzufinden. Welche bin ich unter all den vielen, welche Bedeutung hat das, was sich steig wiederholt - und wohin steuert das Schiff - und überhaupt: steuert?

Diese Tagebücher waren und wahrten Geheimnisse. Profanes, was eine nicht ans Tageslicht gezerrt haben wollte. Ganz Intimes, Eigenes, Unausgegorenes und oftmals schamhaft Wahres. Kein Wunder, dass manche der Tagebuchschreiberinnen ihr Innerstes, das da schonungslos offen gelegt wurde für viele Jahre auch nach dem eigenen Tod geschützt haben wollten. Nicht immer ging dieser Wunsch in Erfüllung. Und nicht selten war dieser Wunsch nach Verborgenheit paradox verbunden mit einem sehnsüchtigen Exhibitionismus. Ein Glück. Für mich jedenfalls, denn die eigentlich nur für sich selbst niedergeschriebenen Zeugnisse eines ganz normalen Lebens auch der allergenialsten Dichterin runden deren Bilder erst ab, machen sie vollständig. Oder zeigen, was der vollkommenheitssüchtige öffentliche Blick lieber nicht gesehen haben wollte.

Heute sind die ledergebundenen Hefte, die klecksenden Füllfederhalter, Schnellhefter und Plastikkugelschreiber abgelöst von Bildschirm und Tastatur. Und statt nummernschloßgesichertem Tagebuch schreiben wir Blog. Öffentlich. Das, was früher gut und gerne mal 50 Jahre und mehr ruhen konnte um die Patina der Reife anzusetzen ist heute gleichzeitig innen - und schon draußen. Schon in der Welt, bevor ich es noch fertig ausgebrütet habe.

Zugegeben, ich liebe es, die Blogs meiner Freundinnen zu lesen, Marie-Luise Stiawa, Cambra Skadé und Salamandra, den Blog von Luisa Francia lese ich nahe zu täglich, sofern mich hier in der portugiesischen Pampa das Internet nicht im Stich lässt. An ihren Gedanken, ihrem magischen Alltag teilzunehmen verbindet mich ein Stück weit mit der Welt, in der sie leben. Ihre Texte sind die Fäden meines Netzes, das sich durch ganz Europa spannt. So kann ich in meinem abgeschiedenen Tal sitzen und doch ganz intim wissen, was diese Frauen an- und umtreibt. Telepathisch unbegabt, nutzen wir die virtuelle Welt, um gemeinsam zu tanzen.

Und doch gibt es da dieses Unbehagen. Nicht wegen der angeblich fehlenden Intimsphäre. Erstens entscheide ich ja selbst, was ich hier veröffentliche - und zweitens gibt es dieses „Private“ gar nicht wirklich. Nicht, weil wir eh schon „ausgespitzelte“ Nummerncodes sind bevor wir überhaupt unser Handy angeschaltet, unsere EC-Karte verwendet oder einen Flug gebucht haben. Nein, ich persönlich bin immer mehr davon überzeugt, dass das, was wir unsere eigenen, geheimsten Gedanken und Identitäten nennen tagtäglich mit Millionen anderer Wesen teilen. Nichts in und an uns ist singulär. Das macht ja auch die eigentliche Kraft des Schreibens und Veräußerns aus: Das andere sich darin wieder erkennen.

Nein, mein Problem ist eher die Geschwindigkeit. Oder der Zwang zur kontinuierlichen Aktualität. „The power of now“ - dieser etwas abgegriffene Slogan eines New-Age-Bestsellers könnte auch über den Blogwäldern des Internet stehen. Jetzt. Gleich. Und sofort. Gestern ist Asche, Morgen eine neue Sensation.
Seit ich hier in Portugal lebe, bin ich deutlich langsamer geworden. Und bin doch häufig immer noch zu schnell. Mein Hirn arbeitet immer noch auf Hochtouren beim etwas müßigen Versuch, alles zu er- und begreifen, einzuordnen, zu analysieren und zu verstehen. Dabei: Was gibt es eigentlich „zu verstehen“?

Was ich hier erlebe ist der Wechsel eines Paradigmas: Vom „Sein“ zum „Mit-Sein“. „Mittendrin-Sein“, ununterschieden einzufließen und gewahr werden der eigenen Schwingungsmuster. Ein Prozess, der sich weit vor der Versprachlichung vollzieht.

Vielleicht fällt mir deshalb so schwer zu berichten, was sich so alles im Außen vollzieht. Nicht wenig: Neues gewagt, am Alten hängen geblieben, Muster erkannt, Veränderbarkeit geprüft und festgestellt, dass es etwas gibt, das bleiben will, nicht weichen. Einen Weg gefunden das Eigene neu zu tragen und zu gestalten. Unfraglicher jetzt, nachdem es ganz und gar in Frage gestellt wurde. Nachdem ich mich ganz ins Leben geworfen habe, hat das Leben mir eine Lektion erteilt und eine neue Sicherheit geschenkt. Jetzt weiß ich mehr. Und der nächste Durchlauf beginnt. In anderen Worten? Hat es schon immer Menschen gegeben, die am Rande von menschlichen Gemeinschaften gelebt haben. Die Hagazussen, die, die jenseits des Schutzwalls lebten, den Menschen in der Regel um ihre Siedlungen herum anlegen. Die vom wilden Wald, die sich in Wölfe mit großen Ohren und großen Mäulern verwandeln und junge Mädchen fressen. Die in Bäumen wohnen und Rätsel aufgeben. Zu denen man geht, wenn keiner mehr Rat weiß. Wo es Steinsuppe zu essen und Federbetten aufzuschütteln gibt. Das ist meine Gemeinschaft, die ich im Sternzeichen der Schwellenhüterin geboren bin. Wie die Gemeinschaft der Frauen im Internet, die jeden Tag der Informationsflut dieses Massenmediums ihre eigene Stimme entgegenstellen, unbeirrbar darauf beharrend, das es eine sehr persönliche Wahrheit gibt, die in uns allen wohnt.

Wie, ein Widerspruch? Hatte ich nicht weiter oben gesagt ...?! Aber klar doch. Könnte eine denn wirklich noch annehmen, dass wahre Leben sei ohne Widersprüche? Meine Erfahrung ist: Es ist immer alles gleichzeitig da. Und das ist wohl auch gut so. Also stelle ich mein Schweigen ins Internet. Und schreibe wieder heimlich in mein Buch, mein Zauberbuch, mein Buch der sieben Siegel, Pandorras Büchse ... all das, was ich nur zu mir selber sprechen kann.

Freitag, 9. September 2011

Erneuerung


Im tibetischen Buddhismus gibt es ein Ritual, das sich "Erneuerung des Göttlichen" nennt. Gläubige Buddhisten erneuern ihre Beziehung zum Göttlichen, die vor allem eine Beziehung zum "inneren Göttlichen" ist, indem sie sich zum Beispiel auf eine Pilgerfahrt begeben. Dahinter steht die Auffassung, das eine Beziehung, die nicht gepflegt wird stirbt. Und mit ihr auch die Wesen, die in ihr verbunden sind.

Meine "Pilgerfahrt" hat mich innerhalb von 6 Wochen von Portugal über Spanien nach Frankreich, in die Schweiz und Deutschland geführt. Ich habe eine Karte dieser Tour gezeichnet - wie eine große Leminiskate liegen die Spuren da auf dem Land. Ein Balanceakt, in die Unendlichkeit geschrieben.

Die äußeren Zeichen gemahnen an ein Gleichgewicht, das für mich auch im Inneren herzustellen war. Zwischen dem, was ich verlassen und dem, was neu zu beginnen ich erschlossen hatte. Zurückkehren, um noch einmal zu überprüfen ob die Schritte, die Entschlüsse richtig waren, ob ich die Zeichen richtig gedeutet und mich auf das Abenteuer Leben wirklich eingelassen hatte. Ob mein Mut ausreichte, meine Fähigkeit, das sich-noch-nicht-Offenbarende geduldig abzuwarten, die Übergänge zu meistern und mich im Zaunreiten zu üben.

Nach Deutschland zurück zu kehren, auch nur für einen überschaubaren Besuch, war schmerzlich. Das Haus, unsere "in Würde gealterte Schönheit" lieblos behaust von Menschen, die dem Alter nichts oder nur Beschwernisse abzugewinnen vermögen. Der Garten überwuchert, all die liebevoll gepflegten schwächeren Pflanzen verdrängt durch das, was an diesen Platz ohnehin wirklich hingehört. Es war eben doch auch ein Kampf gegen Windmühlen. Oder anders gesprochen: Das Land lehrte mich, dass meine Vorstellungen immer auch meinen Kraftakt brauchen, um Geltung zu erlangen da, wo andere Gesetze herrschen.

Nach Deutschland zurück zu kehren war eine Konfrontation mit meinem Selbstbild: Jener Raum greifenden und Raum gestaltenden Herrscherin ihres eigenen Reiches, in dem vor allem meine Regeln Geltung haben. Weggehen heisst eben auch Loslassen, heisst das bisher bewohnte Reich anderen Kräften zu überlassen, die eine eben nicht und schon gar nicht aus der Ferne kontrollieren kann. Der Ausgang eines solchen Unternehmens ist stets ungewiss, und in meinem Falle ist das mühsam aufrechterhaltene Gebäude gleich mit meinem Weggang über sich selbst zusammen gebrochen. Wodurch mir klar wurde, wie viel ich gehalten habe.

Was mich Deutschland auch gelehrt hat war die Richtigkeit meines Entschlusses. Auch wenn hier in Portugal andere Spiegel auf mich warten, in die zu blicken nicht minder schwerwiegend und entlarvend ist, so schenken mir doch die Stille und die Sanftmut des Landes, die Einfachheit des Lebens jene Wachheit des Herzens, die Lehren nicht zu Strafen, sondern zu Wachstumsprozessen macht.

Nach Deutschland zurück zu kehren war eben auch eine Erneuerung: Gelebter und geliebter Beziehungen zu Menschen, vor allem Frauen, die mein Leben durch ihre Wachheit, ihren Mut und ihre Entschlossenheit stets bereichern. Erneuert die inneren Bande, die mich mit dieser gebeutelten Heimat verbinden, dieses überbevölkerte Vorzeigestück menschlichen Schaffensdranges. Und auch hier sind es die Bäume, die Steine, vor allem der Fluss Rhein, die mein Herz berühren, die Schwere und Tiefe des Landes in denen ich mich wieder finden kann. Ja, das bin ich auch, und nach Deutschland zu reisen war auch eine Erneuerung zu diesen Aspekten des Göttlichen in mir.

Und wie in den Fingerfadenspielen der Kindheit habe ich auch gesehen, was mich immer noch bindet, wo ich noch eingewoben bin in das Textil der Gegenwärtigkeit. Mein Besitz, der hier noch verwahrt steht, geliebte Möbel und vor allem Bücher. Gedankenschätze, die ich hüte, weil sie mich immer wieder auch nähren, so wie bei diesem Besuch. Wo wäre ich geblieben ohne sie?
Hierher, nach Portugal kann ich sie nicht tragen, hier verflüchtigt sich dieser Zufluchtsort sofort, nicht nur aus reinem Platzmangel. Rückzug in Gedankenräume ist hier weder notwendig noch sinnvoll, Fremdgedachtes untauglich für die Präsenz des Seins. Hier ist, was in Deutschland nur Vorgestellt ist - ob Spirituelles, Atmendes oder Unterbau.

Was mich in Deutschland rettet, wird hier zur Last. Was mich hier belastet, wird aus der deutschen Ferne betrachtet zur Bedeutungslosigkeit. So hängen diese beiden Teile meines Lebens zusammen, irgendwo um ein gemeinsames Zentrum gespannt, das geografisch an der Ardeche liegt. Der rote Faden ist die Frage der Grenzen: Wo liegt mein Reich, wo endet es? Wie viel Schutz und Abgrenzung braucht es wirklich? Wo halte ich fest, was längst durchlässig geworden ist und wo vernachlässige ich, was Zuwendung und Pflege, was Schutz bedarf?

In Cambra Skadés Buch "Am Feuer der Schamanin" gibt es eine anrührende Geschichte von zwei Kriegerinnen, die ausziehen, einander zu bekämpfen. Irgendwann erkennen sie, dass es in Wahrheit um Heilung geht. Die Kriegerin, die ihr Messer verwendet, um Krankes, Kränkendes herauszuschneiden und zur Heilerin wird. Ihr Symbol ist die liegende Acht.

Donnerstag, 30. Juni 2011

Die wilde Standhaftigkeit


Vor meiner Tür wächst - nein, nicht eine, wachsen hunderte wilder Möhren. Die Wiese des Tals, in dem mein Wohnwagen steht ist überzogen mit weißen Punkten, kleinen, scheinbar schwerelos im Wind tanzenden Ufos, Milchstraßen, Planetensystemen des Insektenreichs. Sie strecken sich hervor aus den gelb und rosa durchfluteten Wiesen, überragen an Wuchs und Eleganz Quecke, Hafer und Wiesenschaum - und sind für mich ein Wunder der Standhaftigkeit.
Ich glaube, dieser Beweis des Sieges über die Schwerkraft wäre mir völlig entgangen, hätte ich mich nicht eines schönen Morgens vor mich hinträumend beim Kaffee, sinnierend über Nichts und wieder nichts vom Tanz der gigantischen Blütenkrone hypnotisieren lassen. Und erkannt: Dieses Wunder der Statik, dieser Balanceakt zwischen Gewicht und Grazie, dieses Zusammenkommen von solch gigantischen Dimensionen in einem Lebewesen - das ist eigentlich unmöglich.
Denkste, scheint die wilde Möhre mit leisem Gekichere zu flüstern. Und balanciert dabei auf hauchdünnem Stengelchen eine strahlende Galaxie weisser Miniblüten als wäre es das Einfachste unter der Sonne. Warum auch nicht. Das größte Mirakel dabei ist allerdings, dass sie dieses Gleichgewicht in jeder Sekunde wohl tausendmal neu findet, denn sie steht nicht etwa starr und stumm. Nein, in wild ekstatischem Tanz gibt sie sich völlig an Wind und Wetterspiel hin, schleudert nach links und rechts, neigt sich, richtet sich auf, nur um im nächsten Moment schier in die Höhe zu springen ... In die Höhe zu springen? Ihre Wurzeln scheinen im Äther zu gründen. Und blitzschnell ist sie noch dazu. Auch wenn sie, träge hin und her schwankend wie eine bedrohlich aufgerichtete Kobra glauben machen möchte, sie könne kein Wässerchen trüben. Nun, mich täuscht dieses zarte Pflänzlein nimmermehr.

Im Gegenteil: Seit ich ihrer wahren Natur teilhaftig werden durfte, sie sozusagen freundschaftshalber den Schleier der Illusion ein wenig gelichtet hat (wie bin ich eigentlich zu dieser Ehre gekommen?) ist sie meine Kampfesgefährtin. Meine Magierin, die unter dem Teppich kehrt, meine Lehrmeisterin in Sachen leichtsinniger Starrköpfigkeit. Sie nimmt sich niemals ernst - wie könnte sie. Ein ernsthafter Versuch, dieses Blütenplateau auf die Höhe von 120 cm anzuheben lediglich unter Verwendung aufeinander geschichteter Photosynthese, ohne Abstützung ringsherum wäre unter Verwendung logischer Betrachtungsweisen absolut unmöglich. Sie würde wie die Hummel, deren Flügel ebenfalls mathematisch viel zu klein sind, um ihr Körpergewicht zu tragen am Urteil des gesunden Menschenverstandes abprallen, zurückgeschleudert in die Unmöglichkeit, aus der sie gekommen scheint.

Aber zum Glück schert sich die wilde Möhre nicht um den Menschenverstand, ob nun gesund oder doch eigentlich völlig verdreht. Ja, eine könnte sie glatt Ignorantin nennen, wie sie da allen definierten Naturgesetzen zum Trotz einfach in die Höhe schießt und mit lächerlicher Einfachheit alle Glaubensregeln, die eine so verankert hat in ihrem Leben aus den Fugen lächelt. Du kannst nicht fliegen? Tanzen? Alleine wandern? So.

Sie macht nicht das Unmögliche möglich, sie stellt nicht einmal generell die Frage der Möglichkeiten in Frage. In gänzlicher Unbefangenheit schafft sie inmitten eherner Regelwerke ein neues Universum. Sie ist einfach ganz bei sich. Sie glaubt nicht und benötigt von daher auch keinen Zweifel, der ihr hinderlich im Wege stehen könnte. Sie IST die perfekte Ausgewogenheit des Unvergleichlichen, die völlige Verschmelzung grundlegender Widersprüche, die Brücke zwischen Nichtsein und Sein.

Es geht eben schon.

Montag, 20. Juni 2011

Meine Himmel


"Ich habe nie geschrieben, wenn ich zu schreiben glaubte, ich habe nie geliebt, wenn ich zu lieben glaubte, ich habe nie etwas anderes getan, als zu warten vor verschlossener Tür."
(Marguerite Duras; Der Liebhaber)


Es heißt, die Welt verändere sich, sei im großen Wandel begriffen. Das Ende eines - aus menschlicher Sicht - unvorstellbar langen Zyklus nähere sich, würde mit sich reißen was alt und verbraucht, nicht länger wahr zu sein scheint und eine neue Morgenröte bringen. Die Zeichen zeigten sich allerorts, unverkennbar für jene, die zu sehen bereit oder in der Lage seien. Feuersbrünste, Meeresbeben, Kernschmelzen - fast schon erwartet mit einer sich am Entsetzen nährenden Lüsternheit. Rote Fluten aus Magma, Blut und unverdauter Information ergießen sich über die Erde, Speise und Trank für ein Zeitalter das die Apokalypse zum abendlichen Medienereignis erkoren hat. Brot und Spiele fürs Volk.

Seit 12 Monaten lebe ich in einem 12 qm großem Wohnwagen fast am Ende der Welt. In einem portugiesischen Tal, in dem die Sensationen aus dem jähen Aufblühen der ockerfarbenen Erde nach den ersten Regengüssen des Winters oder einer einfallenden Rotte Schweine bestehen. Die üblichen Theaterbühnen des Lebens kleiden sich in schmerzliche Ereignislosigkeit und wie die Bewohner der platon´schen Höhlen einst muss der Geist Fantasie und Psyche bemühen, um das Rad der gewohnten Dramaturgie dennoch am laufen zu halten. Ansonsten: Fliegengeschwirr, Mückenstiche, Wind in den Bäumen, tosende Brandung, zirpendes Gras, dahin huschende Eidechsen und ab und an das Drama von Leben und Tod. Tage, die sich wie Kaugummi dehnen und plötzlich wie ein ebensolcher, bis an seine äußersten Grenzen gespannter zusammenswitchen zu einem kleinen grauen Klumpen. Die Details, einmal bis an die Grenzen des Überdeutlichen klar und umrissen verschwimmen ineinander zu einem nicht näher Definiertem, einer Eventualität mit fraglicher Bedeutung. Sinn ist eine unsinnige Behauptung. Evolution? Entwicklung? Was bedeutet Veränderung in einem sich ständig neu entwerfenden Universum das sich - aus menschlicher Sicht - in schier unglaublicher Trägheit, wenn überhaupt, bewegt?

Wie das Leben der meisten Menschen, die ich kenne, verändert mein Leben sich eigentlich überhaupt nicht - oder mit so rasanter Geschwindigkeit, dass ich jeden Versuch der Einsicht oder Kontrolle auch gleich fahren lassen kann. Sicher, ich lebe nicht mehr so wie vor einem Jahr, oder vor 15 oder 35 Jahren. Ich habe mein Wetter an einen anderen Ort getragen. Meine Himmel jedoch sind die gleichen geblieben.

Als wären wir in einen Rahmen gestellt, dessen Grenzen wir ablaufen, aber nicht überwinden können. Wie in "Die Wand" von Marlene Haushofer können wir sogar hindurchsehen, was gelegentlich zu Unfällen führt weil wir gegen die durchsichtigen Mauern anrennen, denn das Gras ist drüben viel grüner als hier. Mag das Blau des Himmels zu unserem Schutz gegeben sein ändert es doch nichts an dem schmerzlichen Umstand, dass wir die sind, die wir sind.

Gibt es ein göttliches, ein über den Wassern schwebendes Sein, so ist es doch ebenso wie wir an die Bedingungen unserer Existenz gebunden. Ohne das Blau des Himmels würden wir aller Wahrscheinlichkeit nach unmittelbar in die Bodenlosigkeit stürzen. Oben wäre nicht mehr wie unten, die Welt würde sich nicht mehr um sich selbst drehen und wir wären verloren in unserem Angewiesen-Sein auf das Beständige. Den Wiedererkennungswert des Spiegelkabinetts, in dem wir leben. Würde was auch immer uns verändern wollen, müsste sie/er/es äußerst langsam und bedächtig vorgehen eben weil unser Geist so gerne Bescheid weiß und vor allem - stets ein Wörtchen mitzureden haben will. Ich sehne mich nach der anderen Seite und bin doch noch gar nicht angekommen da, wo ich herkomme. Mein Reich liegt leer und verödet, mein Thron modert vor sich hin und bald schon werden die letzten Bastione zerfallen sein. Vielleicht ist das der Wandel, den wir erwarten. Endlich erlöst zu sein vom Gepäck der Erfahrung, dem Drücken des Wissens um, der Last des nicht ungeschehen machen Könnens.

Über meine Himmel zieht eine Wolke. Unten am Horizont ballt sich zusammen, was ein Sturm werden könnte, wenn ich es denn so wollte. Noch streicht der Wind zärtlich über meine Wangen, kühl und erfrischend. Doch schon in wenigen Stunden wird die Hitze unerträglich werden, wird mich in den Erdboden brennen, mich ganz und gar verglühn. Der Himmel wird dann violett sein, tief und fern mit einem Stich Gelb für den Neid. Spätestens dann wird mein Geist ausziehn, ins Grenzland. Sind die Schatten nicht tiefer, dort drüben?

Dienstag, 12. April 2011

Geborgenheit und Mut


Vor einigen Wochen schrieb Antje Schrupp, eine befreundete Journalistin und Philosophin in ihrem Blog über eine Ringvorlesung der Berliner Humboldt-Universität mit dem Titel „Sicherheit und Risiko. Über den Umgang mit Gefahr im 21. Jahrhundert“. In ihrem Text nimmt sie den Titel kritisch unter die Lupe und setzt ihm eine weibliche Betrachtungsweise entgegen: Geborgenheit und Mut.

Vor rund 11 Monaten haben meine Familie und ich entschieden, die vermeintlichen Sicherheiten eines Lebens in "wohl geordneten" Bahnen zu verlassen. Vielen erschien und erscheint es nach wie vor als eine Entscheidung gegen Sicherheiten. Ein "sicheres" Dach über dem Kopf, "sichere" Lebensumstände, kalkulierbare Risiken. Versicherungen. Mir - uns - erschien das nicht so. Das drückende Gewicht verordneter und wachsender "Ver-"Sicherungen machte aus unserem Leben einen Schwitzkasten, der uns schließlich an den Rand einer prekären Lebenssituation brachte. Das Risiko, zwischen die Maschen zu fallen war irgendwann größer als ein potentieller Nutzen.

Heute lebe ich in einem Wohnwagen. Ich zahle keine Miete - dafür habe ich die schönste Landschaft vor dem Fenster, ein Plumpsklo in 100 m Entfernung und Wasser, das ich täglich aus der Quelle hole. Wenn es regnet, verwandelt sich mein Haus in eine Trommel, wenn es windet in ein schwankendes Schiff und wenn - wie heute - die Sonne scheint habe ich Sauna und Solarium in einem. Und - ich fühle mich geborgen. Die Wände meiner 6 qm großen Behausung umgeben mich wie die schützenden Arme einer Mutter - wenn ich denn diesen Schutz mal brauche. Ansonsten schaue ich hinaus und finde die Welt aufregend und anziehend. Ich fühle mich wie ein Kind, das die Welt neu entdeckt. Und alles darin ist wunderbar, aufregend und - lebendig.

Unter meinem Wohnwagen lebt eine Schlange. Nachts kommt uns manchmal die Wildkatze besuchen und jagt meine zugelaufenen, etwas ängstlichen Nahezu-Hauskatzen auf den Baum. Meine Tochter wurde schon vom angeblich tödlichen Hundertfüssler gebissen und ich sammle allabendlich die Zecken aus unserem Fell. Risiken, überall. Und das Wasser, das wir trinken, stammt aus einem 100 Jahre altem Brunnen und hat erwiesener Maßen keine Trinkwasserqualität nach allgemein gültigem westeuropäischem Standard. Stimmt. Ich musste mich erst dran gewöhnen, dass das Wasser plötzlich nur noch nach Wasser schmeckt.

Ich will unser Leben hier nicht über den grünen Klee loben. Es gibt unzählige Herausforderungen Tag für Tag, wovon nicht die geringsten menschlicher Natur sind. Und wenn sich im Dauerregen das Land in eine Matschwüste verwandelt oder die unnachgiebige Sonne alles zu Staub zerdorrt, dann kommen wir an die Grenzen dessen, was wir für erträglich halten. Dann fordert das Leben hier Mut, manchmal im Übermaß.

Dennoch - ich würde nicht zurück gehen. Ich fühle mich geborgen in einer Schöpfung, die von mir Wachheit und Aufmerksamkeit, Anteilnahme und Hingabe fordert. Ich liebe es, zu ent-domestizieren. Oder auch auszuwildern.

Ich komme mir auf den Grund. Spüre die Wände des inneren Gefängnisses, das mich von der vollen Teilnahme am Leben abhält. Aus Sicherheitsgründen. All die vielen Jahre habe ich gelernt, mich durch Schutz zu bewahren. Weil ich mich in dieser Welt nicht beheimaten konnte. Der Alien in einer feindlichen Umgebung.
Heute lerne ich, dass ich ein Teil dieser Schöpfung bin. Exakt und auf das Beste angepasst. Innen wie aussen. Vollständig geborgen in dem, was ich bin.
Ich kann mich auflösen und wieder zusammen setzen. Und das Fremde bleibt nur so lange fremd, wie ich es ein- und abkapsle. Indem ich es aufnehme und ihm Raum gebe, durchwachsen wir einander und werden neu. Ein Hundertfüsslerbiss, an dem eine nicht stirbt ist das exakte Beispiel dafür. Indem ich aufnehme, lerne und wachse ich. Wie alles Lebendige.

An einem anderen Ort in dieser Welt brechen andere Gefängnisse entzwei. Diktatoren werden gestürzt und das, was jahrzehntelang im Verborgenen blühte tritt ans Tageslicht. Und - Reaktoren erweisen sich als untaugliche "Sicherheitsverwahrungen" für Kräfte, deren Natur die Entfaltung ist. Was zu lange unter zu engen Bedingungen gehalten wird bricht sich schließlich scheinbar gewaltsam frei. Aber wie die asiatischen Kampfkünste lehren: Es ist nur der Widerstand, der die Gewalt erzeugt.
Die Kräfte der Erde, einst in Braunkohle, Erdöl und Uran gebunden sind freigesetzt. Wenn ich atme, esse, bin nehme ich diese ungebundenen, diese "freien Radikale" zu mir. Damit sie nicht auch in meinem Körper das nächste zu sprengende Gefängnis finden gilt es jetzt, durchlässig zu werden. Damit alles, was rein kommt, auch wieder raus kann. Und dazwischen aus mir eine andere macht.

Damit habe ich gerade richtig zu tun. Ersteinmal werden alle Engpässe deutlich, alle Erstarrungen fallen ins Gewicht. Eine Woche konnte ich mich nicht bewegen weil ich immer noch an meinem Kreuz trage. Und zu Kreuze krieche. Sowohl die Märtyrerin als auch das Opfer sind Rollenmodelle, die ich nicht so ohne weiteres ablegen kann. Was wären denn die Alternativen?

Montag, 14. März 2011

Sehnsucht Fremde



Wir lieben, was uns vertraut ist. Und wir sehnen uns nach dem, was fremd ist.

Menschen fahren in Urlaub, wandern aus. In Kino und Literatur werden uns ferne und fernere Welten vor das Auge geholt, globalisierte Märkte bescheren uns thailändisches Essen, exotische Gewürze und billige Kleider aus Fernost. Was Anfang des 20. Jahrhunderts das Sagen umwogene Saragossa, das glitzernde Samarkand und das mysteriös versunkene Atlantis war – ist heute Pandorra, die Besiedelung des Mars oder die unerforschte Tiefe des Meeres. Auf seiner schier unersättlich Suche nach immer unbekannteren Unbekannten, immer ferneren Gestaden scheint der menschliche Geist an immer weiteren Horizonten zu schweifen. Immer auf der Suche nach dem, was noch nicht gewesen aber denkbar ist, noch nicht gehabt doch nahezu greifbar, auf jeden Fall aber irgendwie erreichbar und machbar sein muss. Als wäre es das verfluchte Schicksal dieses allzu menschlichen Werkzeuges, nie da zu sein, wo es ist.

Doch zu Hause ist es am schönsten.

Da, wo die altbekannte Ordnung Sicherheit verleiht im Angesicht der unendlichen Möglichkeiten. Wo man sich scheinbar versteht, weil der Gleichklang der Worte Heimat schafft. Ähnlichkeit. Vertrautheit. Geborgenheit im Gleichmaß der Tage, der Ereignisse, der kalkulierbaren Risiken. Und entgegen allem Unwägbaren versichert sich das kollektive Ganze aneinander. Schließt die Reihen. Lasst das Fremde nicht eindringen in die guten Stuben, in die Rückzugsorte von der Welt.

Hässliche Fratzen werden der Abschreckung halber an die Grenzpfosten gemalt: Dunkelheit. Hunger. Armut. Schwarze Menschen, braune und gelbe. Aussatz und Krankheit. Schlafen unter den Brückenbogen am Rande der Rinnsteine. Furcht und Krieg und Tod.
Doch die Dämonen haben Füsse bekommen und Beinchen und haben sich eingeschlichen ins biedere Dasein. Tragen fußstabilisierende Halbschuhe und Nadelstreifenanzug, sprechen hochdeutsch und niesten sich wohlvertraut ein zwischen den Deckblättern von Steuererklärungen, Krankenscheinen und Hochschulnoten. Regieren die Träume im traumzeitlosen Land. Sind uns in Fleisch und Blut übergegangen, vertrauter fast als das eigene Fleisch. Längst schon liegen die Grenzen verwahrlost, ist das Grenzland still und heimlich eingezogen ins Nachbargrundstück und streichelt schon sanft um den Zaun.

Doch sind die Zäune erst einmal eingerissen, bleibt nicht mehr viel, das es zu verlieren gäbe. Diese Rechnung hat der Wirt ohne das Leben gemacht: Ist es erst mal da, lässt es sich so leicht nicht mehr vertreiben. Wächst aus dem Dunkel hervor wie die lichtscheuen Gewächse, die noch die letzten Ruinen sprengen mit ihrer unerwarteten Blütenpracht. Und plötzlich ist einEr draußen.

Aus gutem Grund waren es daher wohl immer die Paria, die Außenseiter, Störenfriede, Wiederspenstigen, die Unzähmbaren, die zuallererst aufbrachen, dorthin, wo das kollektive Sehnen wohnt. Und es mit unversiegbarer Bilder- und Wortflut nährten vom Hunger nach der Fremde. Kommt. Schaut. Hier ist alles anders als dort. Besser. Das Gold glänzt glänzender, die Tränen schmecken nach Salz und Meer und die Träume sind hochfliegende Falken die ihren Schatten auf´s Land werfen. Ganz nah ist alles, wie eine Fata Morgana im Schnee.

Doch am noch ferneren Horizont ziehen Wolken auf. EinEr trägt das Wetter mit sich, zieht es hinter sich her wie an seidenen Nabelschnüren, unentwirrbar verronnen mit dem, was zurück bleiben soll und immer doch schon da ist.
Und die vertraute Brille - Mutter-Sprache, Vater-Land, Brüder zur Sonne und Schwestern im Geiste – überzieht das Fremde mit dem samtenem Schal dessen was Ordnung schafft. Und Wiedererkennen besetzt das Morgenland mit dem Gestern.

Vielleicht können wir die Grenzen nur nach Innen verschieben. Enger ziehen bis das wir uns nicht mehr entkommen können. Unsere liebgewonnenen Deutungsmuster, Geborgenheit-stiftenden Gewissheiten in die Enge treiben bis das sie sich enttarnen und ihr gescheutes fremdes Gesicht zeigen.

Dienstag, 15. Februar 2011

Portugiesischer Winter


Mein erster Winter in Portugal. Während andernorts das Land sich in ein weißes Kleid aus Schweigen, Dunkelheit und kristallenes Licht hüllt, lösen sich hier alle Zuordnungen auf: Zwischen herbstlichem Nebel voller tautropfengeschmückter Spinnwebdiademe an Ästen und Fenstern und kathedralhohen Azurhimmeln erfüllt von Vogelgezwitscher und Schäfchenwolken springen die Tage zwischen den Jahreszeiten hin und her, fällt an den einen Bäumen das herbstlich rostrote Laub im gleichen Moment, in dem der Mandelbaum sein Blütenkleid anlegt und in den Zitrusfruchtbäumen die Orangen reifen. Alles hat neben allem Bestand, alles ist und kann gleichzeitig sein. Statt linearer Bewegung von A nach Z spiralförmiges Nebeneinander uralter Runensymbole in ihrer ganzen Bedeutungsfülle.
Es ist das Wasser, dass nahezu unaufhörlich in der einen oder anderen Form vom Himmel fällt, die Straßen in Bäche verwandelt und jede kleine Senke in einen See, das schwebende, sprühende, tosende, gurgelnde und rauschende Wasser, das diese fast schon unwirklichen Momente der Gleichzeitigkeit bewirkt.
Nach 9 Monaten unerbittlichen Sonnenscheins, der alles in Grund und Boden glüht, öffnet der Himmel seine sorgsam verschlossenen Schatzkammern und lässt all das aufgesparte Wasser auf einmal auf dieses ausgetrocknete Land nieder brausen, das ausschlägt wie eine magische Wüstenblume. Und weil diese gezählten Momente des Über-Flusses so gezählt sind, muss eben alles, das ganze Leben, Fruchtbarkeit, Zeugung, Heranwachsen, Reife und Tod zur selben Zeit stattfinden. Ganz so, wie im „richtigen“ Leben.
Meine auf die nord- und mitteleuropäische Ausdehnung der Zeit, auf das sorgsame und stetige Aufeinander-Folgen, auf das Nacheinander der Jahres- und Lebenszeiten ausgerichtete Seele hat ihre Mühe mit der Eingewöhnung. Ähnlich wie die zur Bewegungslosigkeit zwingende Sommerglut ist es jetzt die Milde und das alle Sinne auf- und überfordernde Aufquellen des Seins, welches zur Umstellung einfordert. Jetzt wird gesät, damit vor der großen Hitze noch etwas reift. Jetzt treibt der laue Sonnenschein nach Draußen, erwecken die Eiskristalle am Morgen und der von Stürmen reingewaschene Ozean alle Lebenssinne, kommt alles Angestaute unweigerlich in Fluss und ergießt sich zur großen Vereinigung ins Meer. Kein Stein bleibt auf dem anderen. Und das – mitten im Winter.
Unvorstellbar, dass der Frühling dies noch steigern könnte. Das Ocker, Umbra und tiefe Sepia des Sommers hat sich in ein Irisch-Grün verwandelt, die schroffen und abweisenden Steppen des Hochsommers in die liebreizenden Täler der Golfstromumschmeichelten Inselwelten. Die Luft schmeckt süß und verheißungsvoll, tausend Blümchen säumen die Wege und an jeder Ecke, scheint´s wird gerade ein Lämmchen geboren. Verdichtetes Leben.
Wie anders die Welt ist, überall. Ich denke an die Wälder Amazoniens, in das Dämmerlicht des ewigen Waldes getaucht, triefend vor Nässe und ohne den Taktstock der Jahresgezeiten. An das Land im ewigen Eis, sechs Monate im Jahr dunkel und nur angelegentlich erleuchtet von unkalkulierbarem Feenlicht. An die Wüsten mit ihren Extremen von Glut und Frost im Laufe nur eines einzigen Tages. An das Leben in den Sümpfen und den Höhen des Himalaya, in träger Luft oder solcher von schon überirdischer Klarheit und Präzision.
All diese Gebiete haben Seelenlandschaften hervorgebracht, die voneinander eben so verschieden sind wie die Länder aus Stein, Erde, Wolken und Pflanzen. Wie in den Biotopen der Erde gedeihen auch die Seelen der Menschen auf unterschiedlichem Boden und mit anderen Wettern anders. Die turmhohe Wermoutskiefer der Ardidondaks erhebt sich im Hochgebirge des Himalaya gerade mal eben einen halben Meter über dem Stein, und während Orangenbäumchen in Deutschland nur im Gewächshaus und dank unermüdlicher Pflege wachsen, gedeihen sie im Süden Europas an jeder Straßenkreuzung – zumindest im regenreichen Winter.
Seit ich so nah am Land lebe wie hier, verstehe ich immer besser, warum die meisten der noch existierenden indigenen Völker davon sprechen, dass wir dem Land gehören – und nicht umgekehrt. Stein und Pflanze, Wetter und Wind schreiben ihre Zeichen in unser Sein, füllen unsere Träume und unsere Hoffnungen, tragen unsere Freude und unseren Schmerz, nähren uns leiblich und werden von uns genährt.
Tania Blixen schreibt in „Jenseits von Afrika“: „Wird dieses Land einmal meine Geschichte erzählen?“
Ich schenke dem Boden, der Luft, den unzähligen wachsenden und atmenden Geschöpfen um mich herum meine Geschichte, die Flüssig- und Festigkeiten meines Körpers, Tränen, Pisse und Schweiß, wie jeder Atemzug durchdrungen von dem, was mir das Land an Gedanken, Empfindungen und Gefühlen einschreibt. So verwachsen wir ineinander, immer mehr. Assimilation nennt sich das, glaube ich, und es ist ein Austausch, keine One-Way-Road.
Mitten im Winter also der Aufbruch des Frühlings, das Aufweichen der Erstarrungen, das In-Bewegung-Kommen - um dann weg zu fließen und inne zu halten bei herbstlichem Sturm und - doch auch und endlich – winterlichem Frost. Und während ich mich noch im Von-mir-Geben übe wächst mir schon in unglaublicher Geschwindigkeit, die Frucht meiner Mühen entgegen. Höhe und Fall ineinander. Zeit – was ist das?