Dienstag, 12. April 2011

Geborgenheit und Mut


Vor einigen Wochen schrieb Antje Schrupp, eine befreundete Journalistin und Philosophin in ihrem Blog über eine Ringvorlesung der Berliner Humboldt-Universität mit dem Titel „Sicherheit und Risiko. Über den Umgang mit Gefahr im 21. Jahrhundert“. In ihrem Text nimmt sie den Titel kritisch unter die Lupe und setzt ihm eine weibliche Betrachtungsweise entgegen: Geborgenheit und Mut.

Vor rund 11 Monaten haben meine Familie und ich entschieden, die vermeintlichen Sicherheiten eines Lebens in "wohl geordneten" Bahnen zu verlassen. Vielen erschien und erscheint es nach wie vor als eine Entscheidung gegen Sicherheiten. Ein "sicheres" Dach über dem Kopf, "sichere" Lebensumstände, kalkulierbare Risiken. Versicherungen. Mir - uns - erschien das nicht so. Das drückende Gewicht verordneter und wachsender "Ver-"Sicherungen machte aus unserem Leben einen Schwitzkasten, der uns schließlich an den Rand einer prekären Lebenssituation brachte. Das Risiko, zwischen die Maschen zu fallen war irgendwann größer als ein potentieller Nutzen.

Heute lebe ich in einem Wohnwagen. Ich zahle keine Miete - dafür habe ich die schönste Landschaft vor dem Fenster, ein Plumpsklo in 100 m Entfernung und Wasser, das ich täglich aus der Quelle hole. Wenn es regnet, verwandelt sich mein Haus in eine Trommel, wenn es windet in ein schwankendes Schiff und wenn - wie heute - die Sonne scheint habe ich Sauna und Solarium in einem. Und - ich fühle mich geborgen. Die Wände meiner 6 qm großen Behausung umgeben mich wie die schützenden Arme einer Mutter - wenn ich denn diesen Schutz mal brauche. Ansonsten schaue ich hinaus und finde die Welt aufregend und anziehend. Ich fühle mich wie ein Kind, das die Welt neu entdeckt. Und alles darin ist wunderbar, aufregend und - lebendig.

Unter meinem Wohnwagen lebt eine Schlange. Nachts kommt uns manchmal die Wildkatze besuchen und jagt meine zugelaufenen, etwas ängstlichen Nahezu-Hauskatzen auf den Baum. Meine Tochter wurde schon vom angeblich tödlichen Hundertfüssler gebissen und ich sammle allabendlich die Zecken aus unserem Fell. Risiken, überall. Und das Wasser, das wir trinken, stammt aus einem 100 Jahre altem Brunnen und hat erwiesener Maßen keine Trinkwasserqualität nach allgemein gültigem westeuropäischem Standard. Stimmt. Ich musste mich erst dran gewöhnen, dass das Wasser plötzlich nur noch nach Wasser schmeckt.

Ich will unser Leben hier nicht über den grünen Klee loben. Es gibt unzählige Herausforderungen Tag für Tag, wovon nicht die geringsten menschlicher Natur sind. Und wenn sich im Dauerregen das Land in eine Matschwüste verwandelt oder die unnachgiebige Sonne alles zu Staub zerdorrt, dann kommen wir an die Grenzen dessen, was wir für erträglich halten. Dann fordert das Leben hier Mut, manchmal im Übermaß.

Dennoch - ich würde nicht zurück gehen. Ich fühle mich geborgen in einer Schöpfung, die von mir Wachheit und Aufmerksamkeit, Anteilnahme und Hingabe fordert. Ich liebe es, zu ent-domestizieren. Oder auch auszuwildern.

Ich komme mir auf den Grund. Spüre die Wände des inneren Gefängnisses, das mich von der vollen Teilnahme am Leben abhält. Aus Sicherheitsgründen. All die vielen Jahre habe ich gelernt, mich durch Schutz zu bewahren. Weil ich mich in dieser Welt nicht beheimaten konnte. Der Alien in einer feindlichen Umgebung.
Heute lerne ich, dass ich ein Teil dieser Schöpfung bin. Exakt und auf das Beste angepasst. Innen wie aussen. Vollständig geborgen in dem, was ich bin.
Ich kann mich auflösen und wieder zusammen setzen. Und das Fremde bleibt nur so lange fremd, wie ich es ein- und abkapsle. Indem ich es aufnehme und ihm Raum gebe, durchwachsen wir einander und werden neu. Ein Hundertfüsslerbiss, an dem eine nicht stirbt ist das exakte Beispiel dafür. Indem ich aufnehme, lerne und wachse ich. Wie alles Lebendige.

An einem anderen Ort in dieser Welt brechen andere Gefängnisse entzwei. Diktatoren werden gestürzt und das, was jahrzehntelang im Verborgenen blühte tritt ans Tageslicht. Und - Reaktoren erweisen sich als untaugliche "Sicherheitsverwahrungen" für Kräfte, deren Natur die Entfaltung ist. Was zu lange unter zu engen Bedingungen gehalten wird bricht sich schließlich scheinbar gewaltsam frei. Aber wie die asiatischen Kampfkünste lehren: Es ist nur der Widerstand, der die Gewalt erzeugt.
Die Kräfte der Erde, einst in Braunkohle, Erdöl und Uran gebunden sind freigesetzt. Wenn ich atme, esse, bin nehme ich diese ungebundenen, diese "freien Radikale" zu mir. Damit sie nicht auch in meinem Körper das nächste zu sprengende Gefängnis finden gilt es jetzt, durchlässig zu werden. Damit alles, was rein kommt, auch wieder raus kann. Und dazwischen aus mir eine andere macht.

Damit habe ich gerade richtig zu tun. Ersteinmal werden alle Engpässe deutlich, alle Erstarrungen fallen ins Gewicht. Eine Woche konnte ich mich nicht bewegen weil ich immer noch an meinem Kreuz trage. Und zu Kreuze krieche. Sowohl die Märtyrerin als auch das Opfer sind Rollenmodelle, die ich nicht so ohne weiteres ablegen kann. Was wären denn die Alternativen?