Donnerstag, 30. Juni 2011

Die wilde Standhaftigkeit


Vor meiner Tür wächst - nein, nicht eine, wachsen hunderte wilder Möhren. Die Wiese des Tals, in dem mein Wohnwagen steht ist überzogen mit weißen Punkten, kleinen, scheinbar schwerelos im Wind tanzenden Ufos, Milchstraßen, Planetensystemen des Insektenreichs. Sie strecken sich hervor aus den gelb und rosa durchfluteten Wiesen, überragen an Wuchs und Eleganz Quecke, Hafer und Wiesenschaum - und sind für mich ein Wunder der Standhaftigkeit.
Ich glaube, dieser Beweis des Sieges über die Schwerkraft wäre mir völlig entgangen, hätte ich mich nicht eines schönen Morgens vor mich hinträumend beim Kaffee, sinnierend über Nichts und wieder nichts vom Tanz der gigantischen Blütenkrone hypnotisieren lassen. Und erkannt: Dieses Wunder der Statik, dieser Balanceakt zwischen Gewicht und Grazie, dieses Zusammenkommen von solch gigantischen Dimensionen in einem Lebewesen - das ist eigentlich unmöglich.
Denkste, scheint die wilde Möhre mit leisem Gekichere zu flüstern. Und balanciert dabei auf hauchdünnem Stengelchen eine strahlende Galaxie weisser Miniblüten als wäre es das Einfachste unter der Sonne. Warum auch nicht. Das größte Mirakel dabei ist allerdings, dass sie dieses Gleichgewicht in jeder Sekunde wohl tausendmal neu findet, denn sie steht nicht etwa starr und stumm. Nein, in wild ekstatischem Tanz gibt sie sich völlig an Wind und Wetterspiel hin, schleudert nach links und rechts, neigt sich, richtet sich auf, nur um im nächsten Moment schier in die Höhe zu springen ... In die Höhe zu springen? Ihre Wurzeln scheinen im Äther zu gründen. Und blitzschnell ist sie noch dazu. Auch wenn sie, träge hin und her schwankend wie eine bedrohlich aufgerichtete Kobra glauben machen möchte, sie könne kein Wässerchen trüben. Nun, mich täuscht dieses zarte Pflänzlein nimmermehr.

Im Gegenteil: Seit ich ihrer wahren Natur teilhaftig werden durfte, sie sozusagen freundschaftshalber den Schleier der Illusion ein wenig gelichtet hat (wie bin ich eigentlich zu dieser Ehre gekommen?) ist sie meine Kampfesgefährtin. Meine Magierin, die unter dem Teppich kehrt, meine Lehrmeisterin in Sachen leichtsinniger Starrköpfigkeit. Sie nimmt sich niemals ernst - wie könnte sie. Ein ernsthafter Versuch, dieses Blütenplateau auf die Höhe von 120 cm anzuheben lediglich unter Verwendung aufeinander geschichteter Photosynthese, ohne Abstützung ringsherum wäre unter Verwendung logischer Betrachtungsweisen absolut unmöglich. Sie würde wie die Hummel, deren Flügel ebenfalls mathematisch viel zu klein sind, um ihr Körpergewicht zu tragen am Urteil des gesunden Menschenverstandes abprallen, zurückgeschleudert in die Unmöglichkeit, aus der sie gekommen scheint.

Aber zum Glück schert sich die wilde Möhre nicht um den Menschenverstand, ob nun gesund oder doch eigentlich völlig verdreht. Ja, eine könnte sie glatt Ignorantin nennen, wie sie da allen definierten Naturgesetzen zum Trotz einfach in die Höhe schießt und mit lächerlicher Einfachheit alle Glaubensregeln, die eine so verankert hat in ihrem Leben aus den Fugen lächelt. Du kannst nicht fliegen? Tanzen? Alleine wandern? So.

Sie macht nicht das Unmögliche möglich, sie stellt nicht einmal generell die Frage der Möglichkeiten in Frage. In gänzlicher Unbefangenheit schafft sie inmitten eherner Regelwerke ein neues Universum. Sie ist einfach ganz bei sich. Sie glaubt nicht und benötigt von daher auch keinen Zweifel, der ihr hinderlich im Wege stehen könnte. Sie IST die perfekte Ausgewogenheit des Unvergleichlichen, die völlige Verschmelzung grundlegender Widersprüche, die Brücke zwischen Nichtsein und Sein.

Es geht eben schon.

Montag, 20. Juni 2011

Meine Himmel


"Ich habe nie geschrieben, wenn ich zu schreiben glaubte, ich habe nie geliebt, wenn ich zu lieben glaubte, ich habe nie etwas anderes getan, als zu warten vor verschlossener Tür."
(Marguerite Duras; Der Liebhaber)


Es heißt, die Welt verändere sich, sei im großen Wandel begriffen. Das Ende eines - aus menschlicher Sicht - unvorstellbar langen Zyklus nähere sich, würde mit sich reißen was alt und verbraucht, nicht länger wahr zu sein scheint und eine neue Morgenröte bringen. Die Zeichen zeigten sich allerorts, unverkennbar für jene, die zu sehen bereit oder in der Lage seien. Feuersbrünste, Meeresbeben, Kernschmelzen - fast schon erwartet mit einer sich am Entsetzen nährenden Lüsternheit. Rote Fluten aus Magma, Blut und unverdauter Information ergießen sich über die Erde, Speise und Trank für ein Zeitalter das die Apokalypse zum abendlichen Medienereignis erkoren hat. Brot und Spiele fürs Volk.

Seit 12 Monaten lebe ich in einem 12 qm großem Wohnwagen fast am Ende der Welt. In einem portugiesischen Tal, in dem die Sensationen aus dem jähen Aufblühen der ockerfarbenen Erde nach den ersten Regengüssen des Winters oder einer einfallenden Rotte Schweine bestehen. Die üblichen Theaterbühnen des Lebens kleiden sich in schmerzliche Ereignislosigkeit und wie die Bewohner der platon´schen Höhlen einst muss der Geist Fantasie und Psyche bemühen, um das Rad der gewohnten Dramaturgie dennoch am laufen zu halten. Ansonsten: Fliegengeschwirr, Mückenstiche, Wind in den Bäumen, tosende Brandung, zirpendes Gras, dahin huschende Eidechsen und ab und an das Drama von Leben und Tod. Tage, die sich wie Kaugummi dehnen und plötzlich wie ein ebensolcher, bis an seine äußersten Grenzen gespannter zusammenswitchen zu einem kleinen grauen Klumpen. Die Details, einmal bis an die Grenzen des Überdeutlichen klar und umrissen verschwimmen ineinander zu einem nicht näher Definiertem, einer Eventualität mit fraglicher Bedeutung. Sinn ist eine unsinnige Behauptung. Evolution? Entwicklung? Was bedeutet Veränderung in einem sich ständig neu entwerfenden Universum das sich - aus menschlicher Sicht - in schier unglaublicher Trägheit, wenn überhaupt, bewegt?

Wie das Leben der meisten Menschen, die ich kenne, verändert mein Leben sich eigentlich überhaupt nicht - oder mit so rasanter Geschwindigkeit, dass ich jeden Versuch der Einsicht oder Kontrolle auch gleich fahren lassen kann. Sicher, ich lebe nicht mehr so wie vor einem Jahr, oder vor 15 oder 35 Jahren. Ich habe mein Wetter an einen anderen Ort getragen. Meine Himmel jedoch sind die gleichen geblieben.

Als wären wir in einen Rahmen gestellt, dessen Grenzen wir ablaufen, aber nicht überwinden können. Wie in "Die Wand" von Marlene Haushofer können wir sogar hindurchsehen, was gelegentlich zu Unfällen führt weil wir gegen die durchsichtigen Mauern anrennen, denn das Gras ist drüben viel grüner als hier. Mag das Blau des Himmels zu unserem Schutz gegeben sein ändert es doch nichts an dem schmerzlichen Umstand, dass wir die sind, die wir sind.

Gibt es ein göttliches, ein über den Wassern schwebendes Sein, so ist es doch ebenso wie wir an die Bedingungen unserer Existenz gebunden. Ohne das Blau des Himmels würden wir aller Wahrscheinlichkeit nach unmittelbar in die Bodenlosigkeit stürzen. Oben wäre nicht mehr wie unten, die Welt würde sich nicht mehr um sich selbst drehen und wir wären verloren in unserem Angewiesen-Sein auf das Beständige. Den Wiedererkennungswert des Spiegelkabinetts, in dem wir leben. Würde was auch immer uns verändern wollen, müsste sie/er/es äußerst langsam und bedächtig vorgehen eben weil unser Geist so gerne Bescheid weiß und vor allem - stets ein Wörtchen mitzureden haben will. Ich sehne mich nach der anderen Seite und bin doch noch gar nicht angekommen da, wo ich herkomme. Mein Reich liegt leer und verödet, mein Thron modert vor sich hin und bald schon werden die letzten Bastione zerfallen sein. Vielleicht ist das der Wandel, den wir erwarten. Endlich erlöst zu sein vom Gepäck der Erfahrung, dem Drücken des Wissens um, der Last des nicht ungeschehen machen Könnens.

Über meine Himmel zieht eine Wolke. Unten am Horizont ballt sich zusammen, was ein Sturm werden könnte, wenn ich es denn so wollte. Noch streicht der Wind zärtlich über meine Wangen, kühl und erfrischend. Doch schon in wenigen Stunden wird die Hitze unerträglich werden, wird mich in den Erdboden brennen, mich ganz und gar verglühn. Der Himmel wird dann violett sein, tief und fern mit einem Stich Gelb für den Neid. Spätestens dann wird mein Geist ausziehn, ins Grenzland. Sind die Schatten nicht tiefer, dort drüben?