Montag, 12. Juli 2010

Ankommen um Anzukommen

Yeah - für alle, die mit uns gefiebert haben: Wir haben es geschafft! 4027 Kilometer, keinen Berg zwischen hier und Alzey ausgelassen, mit einem schiefen Wohnwagenrad und bis aufs Metall abgefahrenen Vorderreifen sind wir am Dienstag, den irgenwasten Juni (vor 13 Tagen!) in und an unserem Ziel eingelaufen oder besser eingerollt!

Die letzten 100 km waren eine echte "Atemarbeit", denn auf irgendeinem Feldweg - oh, pardon, natürlich einer potugiesischen Bundesstrasse! - machte uns ein besorgter Mitfahrer auf unser eben schon ganz schön gewaltig schief stehendes Wohnwagenrad aufmerksam! Wahrscheinlich das Ergebnis unserer davor-nächtlichen Irrfahrt hinauf in ein Bergdorf auf der Suche nach einem Campingplatz: Irgendwann steckten wir dann mitten auf dem Dorfplatz fest, zwischen Straßen, so schmal wie ein Handtuch breit, meterhohen Bordsteinen und verwaisten Autos, die immer gerade dort standen, wo wir drehen wollten! Was für ein Ereignis! Mittnächtens war das halbe Dorf auf den Beinen um uns aus dem Nadelöhr wieder hinaus zu manövrieren. Was irgendwann auch gelang - aber eben wahrscheinlich zum Preis unseres linken Außenrads. Was ich gelernt habe dabei: Manchmal ist es eben gut NICHT zu wissen, was Sache ist. Hätten wir gleich schon bemerkt, was da unter uns los bzw. schief war - wir wären wahrscheinlich nicht weiter gefahren. Aber so ... 100 km vor dem Ziel, nach 3027 bereits gefahrenen Kilometern ... fuhren wir eben weiter. Die abgefahrenen Vorderreifen entdeckten wir dann zum Glück erst, als wir ankamen, und auch nur, weil uns jemand darauf aufmerksam machte. Fazit: Das Glück ist mit den Närrinnen!

Aber wie gesagt, ein Stück Atemarbeit wars eben auch. Naja, ist auch mal wieder wichtig, richtig durchzuatmen. Ich habe mich exakt gefühlt wie unter der Geburt von Alina: Zurück geht nicht mehr, was vor dir liegt ist ein Mirakel, die ganze Situation hoch dramatisch - also WEITER ATMEN!

Ankommend durfte ich dann erfahren, dass unsere Elsa tatsächlich doch von Menschenkraft bewegbar war: Zu 10 wuchteten ausgeruhte MitbewohnerInnen unseren Wohnwagen an Ort und Stelle, wieder mal einen (diesmal kleinen!) Berg rauf, zärtlich um Baumsetzlinge herum und - einmal graziös um die eigene Achse gedreht - an die Stelle, wo jetzt denn dann mal für die nächste Zeit mein/unser Zu Hause ist.

Tja, und da sind wir denn nun ... Langsam komme ich an, sozusagen im Schneckentempo. Gewöhnungsbedürftig ist es, das Leben halb unter freiem Himmel, ohne Elektrizität und fließendem Wasser, mit Kompostklo und Freiluftdusche. Ohne ständige städtische Geräuschkulisse, dafür voller nächtlicher Tierstimmen und dem ununterbrochenen Gesumme von ca. 1/2 Milliarde Insekten, denen so ein köstliches Mahl wie unsereins wohl selten unter die Fühler kommt - wenn eine mal von der Anzahl der Insektenstiche auf die Attraktivität schließt. Ohne großartige Rückzugsmöglichkeit vor allem vor einer ununterbrochen niederbrennenden Sonne (Schattendächer sind die architektonische Herausforderung der Stunde!), dafür Wind und Wetter im Gespräch mit Wille und Wollen. Und natürlich - Menschen, Frauen, Männer, Kinder, zu Hauf. Und all die Themen, die eben so zusammenkommen wenn Menschen zusammen kommen ... Raum, Nähe, Distanz, Vergangenheit und Sehnsucht, Abfall und der tägliche Spül. Kein Thema wird ausgelassen ...

Habe ich mir das wirklich so vorgestellt? Mein ganzes inneres Aversionsgerüst knarrt und kracht angesichts von 200-Jahre alten Socken, die auf Wiesen ein Freiluftleben führen, Spülbergen, gegen die sich der Himmalaja warm anziehen muss, überall herum liegendem Krempel, Baumaschinen-Spielzeugen, die den Horizont verstellen und, und, und ... all den Themen, die natürlich durch all das Bekannte getriggert werden wie die Bienchen durch den Honig.

Nein, ehrlich gesprochen habe ich mir DAS nicht überlegt. Aber im Menschen liegt eben das Paradies direkt neben der Müllkippe, da kommt keinEr dran vorbei. Klar, die Frage ist berechtigt, ob wir immer erst durch die eine müssen, um in das Andere zu kommen - aber im Moment führt wohl kein Weg daran vorbei. Schließlich ist doch das aktuelle Thema "Recycling" - und Nachhaltigkeit, erneuerbar .... Wahrscheinlich ist es halt so, dass wir vor der Wiederverwendung von Plastik und Co. erst mal einen Weg finden müssen, unsere eigenen, ganz menschlichen Ressourcen aufzubereiten ...

Wenn das gelingt, kommen dann diese Glücksmomente: Wenn 20 Menschen nahzu aller Altersklassen und Geschlechter zusammen sitzen und lachend unter provisorischem Sonnenschutz experimentelles Essen geniessen. Wenn Tränen fließen wo sonst nur Abweisung stockt. Ausflüge ans Meer. Musik, tief in der Nacht. Und ein Wohnwagen, der in 20 Minuten an Ort und Stelle steht.

Es hat also begonnen, mein Gemeinschaftsexperiment. Und klar: In 14 Tagen bin ich schon dreimal (innerlich) ausgezogen. Aber ich habe mich auch viermal selbst überrascht. Und irgendwann wird es ja auch mal wieder kühler. Hoffentlich.