Mittwoch, 15. Februar 2012

Der Morgen



Wir haben ein Lied über den Fluss. Den Fluss, der fließt und wächst, und dem Meer zugetragen wird. Es soll ein beruhigendes Lied sein, voller Zuversicht und Vertrauen, denn darin heisst es auch, es sei der Fluss, der uns trägt. Doch weiß der Fluss das? Kennt der Fluss seinen Weg, sein Ziel? Und wird er, am Ende sich ins Meer ergiessend (denn das zu wissen ist es, was wir ihm voraus haben), erkennen, dass es dieses ist?
Wird er frohlocken, singen, sich voller Freude hingeben? Oder wird er das Ende seines langen Weges bedauern, voller Trauer zurückblicken auf Quelle, Fälle, Gebirge und Stein, sanfte Mündungen, Ufer voller Weiden und Narzissen? Und die Bilder, schimmernde Spiegelungen auf seiner nimmer ruhenden Oberfläche, die tausend geflüsterten Geschichten, all den Schweiß und Urin den er fort gewaschen, all die Tränen, die er gesammelt, all die Leidenschaft, die er mit seinen Armen umfangen hat - werden sie mit ihm vergehen? Und wird es eine Gnade sein, all diese Last weiterzugeben - oder ein Fluch?

Der Morgen kommt mit beissender Klarheit. Wie Lanzen stechen die Strahlen der aufgehenden Sonne in das noch im Dämmerlicht liegende Zimmer, reißen Einzelheiten hervor aus einem verschwimmenden Hintergrund. Die Armreifen aus Silber, Trauergeschenk. Perlen und Knöpfe wie erstarrt. Staubglimmer in der Luft, ineinander geschachtelte Universen in diesem, das uns einzig erscheint.
Mein Körper, noch warm unter den Decken. Ja, noch ist er da. Unter der Haut der flimmernde Schlag des Blutes, das Stöhnen und Ächzen der Winde darüber. Und ja, der Schmerz auch, lässt mich wissen, es ist hier wo ich bin. Wiedergefunden nach einer Reise durch fremde Häuser und Wohnungen, deren Möbel ich im Traum immer wieder und wieder neu arrangiere, umstelle, solange bis kein Durchkommen mehr ist. Etwas in mir sucht nach einer Ordnung, die verloren ist. Und was mir im Traum nicht gelingt, wird es mir hier, auf dieser Seite, in einem Körper, noch schwer von der nächtlichen Arbeit, wird es mir gelingen, mit diesen Händen, denen all die getanen und unterlassenen Taten sich so unweigerlich eingeschrieben haben, tief und tiefer?

Gezeter reißt mich aus Gedanken, von denen ich längst weiß. dass sie zu nichts taugen. Das morgendliche Konzert der Vögel, Amseln, Spatzen, hunderte Arten von Finken und darunter das Gesurre der türkischen Tauben. Als ich vor die Tür trete, kreist ein Rabe übers Haus, dreimal, kolkt mir seinen Schrei entgegen. Zauberbote, Begleiter von Hexen und Ausgestoßenen. Da weiß ich, dieser Tag wird den Worten gehören, und wieder der Einsamkeit.

Worte und Einsamkeit. Kaum kann ich die Buchstaben voneinander trennen, noch schwerer das Gewicht ihrer Eigenheit.

W
O
R
T
E

E
I
N
S
A
M
K
E
I
T

ORTE ROTE WO SAMEN KEIM SORTE WEITE WEINE WIRT TIERE TORTE ENTKAM ATEM KRISE SEIN WARTE MASKE KNIE  STEIN ART START REIN AMEN NAME MEIN STREIT.

Ein ganzes Universum in zwei Worten. Wo der rote Samen keimt. Trost und Verdammnis zugleich, Geschenk und Fluch diesem Körper mitgegeben, der schon zerschlagen war, bevor das Leben Hammer und Meißel ansetzte, so, wie es das immer tut. Nicht von der Sorte, die Weite zu beweinen. Nein, Weite war nicht das Problem. Sie war da drinnen, immer, selbst, als dieser Leib bandagiert, aufgeschnitten und für Jahre in Gefängnisse aus zerbrochenen Knochen und Gips gesperrt wurde. Direkt hinter den geschlossenen Lidern, nur ein Zittern und einen Atemzug entfernt. Fluchtpunkt. Der Krise entkommen. Steinhart unter der Maske des duldsamen Wirtes wurde mein Name Streit. Von der Art der Steine. Unnachgiebig, wie tot. Der Schein, aufgelegt für die Achtlosen die Lebendigkeit verschleuderten wie lautes Gebrüll.

Doch wie unter der glatten Schale des Samenkorns schlief unter der abweisende Spröde ein Herz. Äonenweiter Rhytmus, nicht vernehmbar im flüchtigen JETZT. Warte, mein Herz, habe Geduld. Schlage, mein Herz, zerschlag das Gebein. Verharre in Lautlosigkeit, stiller Same rot und labe dich an dem, was ist. Einsamkeit. Denn das Wasser wird kommen und dich erweichen. Der Fluss wird fließen, einst, hier in dieser Wüste. Ich kann ihn fast schon riechen. Geh auf die Knie. Lege dein Ohr an die Erde. Hülle dich in die Geste der Demut, mache dich unsichtbar darin. Damit sie zu dir kommen können, die Worte.

Dennoch hat es Jahre, Jahrzehnte gedauert, bis ich diese Magie verstanden habe. Tiekma sni´e etro-w. Nichts war da, am Anfang, und davon soviel, dass es sich bis heute in Schwärze hüllt. Wie der Rabe, der jetzt wieder über meinem Haus kreist, diesem geliehenen Unterschlupf für mein im Übergang befindliches Sein. Sein Geschrei ruft mich zurück aus der Falle, die das Versinken in längst Vergessenem ist. Schmiede die Lanze, solange das Feuer brennt. Hole sie heraus aus dem Feuer, die glänzenden, diamantenen Worte, verführerisch und doch abweisend wie Glas. Schärfe ihre Kanten. Bohre sie in das Fleisch des Selbstmitleids, in die Täuschungen von Auge und Herz. Berge ihn, den roten Samen, und werfe ihn in den Fluss. Jetzt.

Freitag, 16. Dezember 2011

Wi(e)der die Kolonialisierung der Seele

Die Wächterin am Weg zu meinem Haus - umgestürzt in der Luzen-Nacht am 13. Dezember, dem Beginn der Tödin-Zeit - offenbart sie ihre "wahre" Erscheinung. Hekate, die, die in den Bäume wohnt.

Auf meinen letzten Blogeintrag, „In den Zwischenräumen leben“ haben mir erstaunlich viele Menschen geschrieben. Alte Freundinnen, zu denen der Kontakt schon lange eingeschlafen war, Menschen, die sonst eigentlich nicht mit mir kommunizieren und schon gar nicht über so sensible Themen wie die Angst. Aber irgendetwas scheint an dieser zu sein, dass Menschen förmlich zwingt, sich zu äußern, Position zu beziehen. „Hüterin Angst“ heisst sie auch, Schwellenwächterin. Nein, an ihr kommt keinEr vorbei.

Mitgefühl entsteht, Mit-Fühlen, erkennen, wahrnehmen. Da ist etwas Bekanntes, Vertrautes. Aus Mit-Empfinden entsteht der Wunsch, Mit-zu-Teilen. Geteiltes Leid ist halbes Leid, sagt der Volksmund.

Abwehr taucht auf. Da suhlt sich eine im öffentlichem Raum in ihrem Schmerz. Gibt auf. Geht unter. Du bist wohl verliebt in dein Leid, zelebrierst es, dehnst es aus bis on Horizont zu Horizont nichts mehr ist außer dies: Opfertum. Die Kultur der kollektiven Täter verträgt Konfrontation mit den Ergebnissen des eigenen Wirkens schlecht. Wir haben zu glänzen und den Sieg davon zu tragen - auf allen Ebenen.

Beide Reaktionen haben mich verwundert. Nein, mein Schreiben ist kein Schrei der Verzweiflung nach Wahrnehmung. Und nein, ich fühle mich nicht als Opfer, auch wenn die Angst auch das Resultat einer Opferung ist. Und ja, ich finde, wir sollten uns vergegenwärtigen, was und welche wir opfern. Und nein, es geht mir nicht um die Vernichtigung der Angst. Es geht mir um die Ent-Kolonialisierung meiner Empfindungen, meines lebendigen Leibes und Lebens.

Am Anfang war das Dunkel. Und dann kam das Licht. Zerriss die Stille und brachte ein Ei hervor. Das auch zerbrach - und heraus purzelten all die Erscheinungen der Welt. Und oben und unten, rein und befleckt waren geschaffen. So einfach ist das in fast allen neuzeitlichen (!) Schöpfungsmythen der Welt. Speziell an unserer, patriarchal gefärbten Kultur(en) ist, dass das „Unreine“ stets das Leibliche/Weibliche ist während rein und unbefleckt nur das Oben ist, und in diesem Falle natürlich männlich noch dazu. Wie gut, dass das „Oben“ noch dazu der Berührbarkeit entzogen ist. Als leibliche Wesen, angewiesen auf die körperliche Erfahrbarkeit, können wir nur glauben, was uns übers „Oben“ berichtet wird. Von den Erleuchteten, die seiner Makellosigkeit teilhaftig sind. Eben weil sie die Anbindung an die Leiblichkeit scheinbar überwunden haben. Alles strebt zum Licht.

Aber ich komme aus dem Dunkel. Aus dem warmen, feuchten und nährenden Leib meiner Mutter. Wie das Gras und die Bäume, tief verwurzelt in dem, was einEr nicht sehen kann. Und von dem wir doch alle wissen, wie es sich anfühlt.
Jeden Abend versinkt die Sonne hinter dem Horizont, das Licht schwindet - und plötzlich wird deutlich, dass wir da die ganze Zeit in einer Blase geschwommen sind, blauviolettgrünweißrotrosaschillernd, doch drumherum ist nach wie vor - Dunkel. Samtschwarze Nacht, nur hie und da gesprenkelt mit Lichtpunkten, Sternen, von denen die meisten schon verloschen sind. Ihr Licht, eine Erinnerung aus der Vergangenheit, eine Vision der Zeitlosigkeit der Schöpfung. Jetzt, eben und nachher fallen in Eins, fallen ins Dunkle, sind in ihm aufgehoben, eingebettet.

Um uns Dunkel. Und in uns Dunkel. Mehr als Dreiviertel unserer Oberfläche ruhen im ständigen Dunkel. Ach, was sage ich, Neun-Zehntel. Im warmen, lichtlosen Gluckern und Schmatzen des Leibes. Licht, das braucht eigentlich bloß meine Netzhaut, selbst meine Haut schützt sich, instinktiv, wenn zu viel Licht einfällt. Die Wärme des Lichtes, ja - aber heisst das, dass das Dunkle kalt ist?

Seit ich in Portugal lebe, weiß ich, dass das Dunkle selten völlig schwarz ist. Seit ich an 330 Tagen und Nächten draußen lebe, ist mir die Nacht, das Dunkle vertraut geworden. Die beredte Stille. Das lichte Schwarzgrauviolettgrünblauweißumbraocker .... . Die Stimmen der Nachttiere. Die Landschaft in ihrem Wärmekleid. Und es braucht nur wenige Nächte im Haus und schon geht diese Vertrautheit wieder verloren. Von Innen durch die doppel-verglasten Fenster her betrachtet, bei elektrischem Licht sitzend ist die Nacht nur schwarz, abweisend und bedrohlich. Es ist dieses Licht, dass dem Dunkel die Heimat abspricht. Das es uns fremd und vor allem „anders“ er-"scheinen“ lässt.

Weil ich das weiß, weil ich es an meinem Leib und in meinem Stoffwechsel erfahren habe, weiß ich, dass es sich mit dem Dunkeln in unserer Seele genauso verhält. Erst der „Schein“ des industrialisierten Lichtes, des „Funktionierens“ und der Denkungsweise des „Arbeitens“ macht das Dunkle, die Heimat unserer Seele zur allumfassenden Schwärze - wobei mir die Farbe die Verwendung in diesem Zusammenhang verzeihen möge - noch weiß ich kein besseres Wort.

Schwarz ist die Angst, dunkel greift sie nach dem Licht unserer Seele - so oder ähnlich lauten die Beschreibungen. Sumpfig, faulig ist ihr Terrain, voller stinkender, verrottender Emotionen. Tod und Verderben folgen ihr auf dem Fuße, nichts, was sie berührt, bleibt unversehrt.

Eine Freundin schrieb mir vom inneren Bild ihrer Angst: Ein kleines, verwildertes und verwahrlostes Mädchen, mit schmutzigen Kleidern und verfilztem Haar, alleine hockend in der Dunkelheit auf einem Felsen überm tosenden Meer. Besser könnte es einEr nicht beschreiben.

Mit meiner Angst lebend und mich mit ihr vertraut machend, offenbart mir, dass sie die Hüterin meiner Wildheit ist. Jener Aspekte in mir, die nach wie vor undomestiziert und dank ihrer Verborgenheit, Widerborstigkeit und Unzähmbarkeit unkolonialisiert sind. Es sind die „Primitiven“, die sich den Verlockungen von Bildung für alle, Fressen bis zum Umfallen, Coca-Cola, Levis-Jeans und Sneakers gegenüber unbeeindruckt zeigen. Das, was es da zu wissen gäbe, ist uninteressant weil nicht spürbar. Das, was es da zu essen gäbe, macht nicht satt. Und die Kleidung verkleidet lediglich, was die samtschwarze Nacht und den funkelnden Tag fühlen will. Die Erde unter den bloßen Füßen.

Wenn ich schreibe, ich kenne kein Gegenmittel gegen die Angst, dann ist das Aufgabe. Aufgabe eines Kampfes gegen die Aspekte des Lebendigen, die nicht „funktionieren“. Und Hinnahme. Des Geschenkes eines nach wie vor, trotz aller Morde lebendigen Lebens, das sich nicht abspeisen lassen will.

„Natürlich“ fürchte ich die Angst - weil sie mir in die Haut schreibt, wo ich schon abgestorben bin. Das schmerzt - doch plötzlich dann das Wissen - was schmerzt kann noch nicht ganz tot sein! Ist der Tod etwa doch nicht so ultimativ, so endgültig wie ich zu glauben gelernt habe? Ist es die schwarze Alte, Mutter Tödin, die Tod-im-Leben und Leben-im-Tod Göttin, die da sitzt in dunklen Teil meiner Seelenlandschaft und mir zuraunt: Glaube nicht alles, was du siehst? Nicht alles, was glänzt, ist gold!

Man hat mich gelehrt, dass das Leben feindlich ist. Dass ich mich schützen muss, um zu überleben. Dass es ein richtiges, ein „gefälliges“ (!) Leben gibt und ein falsches, ein „gefallenes“ (!). Das eine verheißt Belohnung, das andere Strafe. Dennoch: Richtig bin ich, wenn ich gefalle. Oder auch auf die Täuschungen herein. Falle.

Auf jeden Fall - eine Falle. Und wie jedes lebendige Tier nage ich mir seither das Teil ab, das in Gefangenschaft geraten ist. In der Hoffnung, dann zwar versehrt, aber wieder frei zu sein.

Wächterin Angst zeigt mir den Schmerz dieser Selbstverstümmelung. Und den Mut und die Kraft die dennoch auch dort sind. Einen Teil zu opfern für das Überleben des Ganzen.

Meine Freundin schreibt, es geht um die Zuwendung der Erwachsenen zu diesem wilden, ungezähmten Kind. Um Unabhängig zu werden von der Zuwendung der anderen, Außen. Doch ich frage mich: WelchEr ist denn da „erwachsen“? Müssten wir nicht vielmehr sprechen von denen, die „entwachsen“ sind? Warum erscheint die Wächterin Angst fast immer in unserer kindlichen Gestalt? Weil sie so hilflos ist, so angewiesen, so abhängig? Hätte sie dann wirklich so lange überlebt?

Ich befürchte, die Trennung der eigenen Seelenlandschaft in „Kindlich/Kindisches“ und „Erwachsenes“ ist nur ein weiterer Versuch, die Sache unter Kontrolle zu bringen. Auch die Missionare und Entwicklungshelfer gingen/gehen an die so genannten „Primitiven“ wie an Kinder heran, unvollkommene Erwachsene eben, für die Sorge getragen, die „erzogen“ werden müssen. Wenn wir dem zustimmen, machen wir uns zu Mithelfern unserer eigenen Kolonialsisierung und der anschließenden Ausbeutung unserer freien Seele.

Die Wächterin Angst trägt das Gesicht eines Kindes, weil ich nur noch durch dieses Bild zu erweichen bin. „Kindheit“, das ist das sentimentale Reservat eines verkitschten Bildes von Heilsein. Verdrängungsort all unserer Sehnsüchte. Das Kindchen-Schema löst unser versteinertes Herz, unsere Brieftaschen und unser Mitgefühl.

Die Wächterin Angst ist klug und über alle Klischees erhaben. Sie nutzt, was ihr zur Verfügung steht. Sie zeigt sich uns im Bild des hilflosen Kindes, damit wir ertragen können, was wir da sehen. Damit unser Leib erwacht, unsere Wasser zu fließen beginnen, wir wieder fühlen, was es zu fühlen gibt: Dieses da, was uns angeboten wird und wurde, ein „er-ent-wachsenes“ Leben - ist ein Verrat. Ein Verrat an unserem Geburts-“Recht“, dass Leben ganz und gar zu besitzen/bestehen/erfahren. Wir können ihm nicht entgehen. Wir können es nur so lange verdrehen, bis es unkenntlich geworden ist.

Ich habe meine Angst eingeladen, sich ihrer wahren Gestalt zu offenbaren. Ich habe versprochen, sie/mich nicht zu (ver-)trösten. Ich habe mich bereit erklärt, zu empfinden, was es zu empfinden gibt. Zu hören, damit ich fühlen kann. Deshalb kenne ich - zum Glück - kein Gegenmittel.

Noch traut sie mir nicht wirklich über den Weg. Noch springt sie mich an, in den kalten Morgenstunden, in der Dämmerung, in den Zeiten dazwischen. Wie Mantren flüsternd offenbart sie mir meine einbrannten Glaubenssätze: Ohne Erfolg bist du nichtig, ohne Geld wirst du vergehen, ohne Gesellschaft vereinsamen. Du bist nicht, wenn dich keinEr sieht. Wenn kein Licht eines anderen Bewußtseins auf deine Schatten fällt. Suche nach Erleuchtung, und du wirst dieses Leben verlieren.

Inzwischen wache ich dann ganz auf und lausche ihr. Spüre ihrem Zerren und Ziehen in meinem Körper nach. Wo wird es mir eng, was beginnt zu surren und flirren wie zartester Flügelschlag unter der Haut? Welchen Tanz tanzt mein Herz im Überspringen von Rhytmen, im Aussetzen? Und mein Atem?

Die Seele ist ein Schwarm, sagen die Yoruba. Sie flattert mal hierhin, mal dorthin. Sie ist neugierig und schreckhaft. Sie ist hier - und schon fort.

Die Mitochondrien sind die Grenzen der Zellen, Schwellenland, Hüterinnenheimat. Sie werden lebendig nur von Mutter auf die Tochter vererbt. Bei Männern sind sie inaktiv. Meine Ahninnenreihe, in jeder lebendigen Zelle meines eingeborenen Leibes. Voller Ahnung, Wissen, das sich nicht ohne weiteres offenbart, in Worte fassen lässt. Hier wohnt die Angst, Begleiterin von Frauengeneration zu Frauengeneration. Meine Angst ist auch die Angst meiner Mutter, ihrer Mutter, deren Mütter. Sie gab mir Form. Gestalt. Mein Leib ist meine Seele, meine Seele mein Leib, untrennbar. Sie hütet diesen Schatz, indem sie mich die Vernichtung zu wissen schaut im Dunkeln. Ihre Freierfüsschen. Ihre Gutsle. Ihre Genüsse. Sie sagt: Dies ist nicht durchzustehen - und stellte mich auf tönerne Füsse.

„Doch“, sagte Frieda Kahlo, „wofür brauche ich Füsse, wenn ich Flügel habe!?“


Donnerstag, 8. Dezember 2011

In den Zwischenräumen leben



Langsam, sehr langsam beginnt Verstehen sich durchzuringen. Endlich innehalten, endlich gewahr werden, endlich - was? Aufgeben?

Ein Leben lang auf der Flucht. Vor diesem Gefühl in der Brust, das sich bevorzugt in Herbst und Winter einstellt, wenn die Nebel fallen, alles Leben sich dem Kern zuwendet, Stille einzieht und Langsamkeit. Wenn die schillernden Attraktionen des Sommers verblassen, wenn Abenteuer zu Geschichten werden, am Kamin erzählt. Zu Erinnerungen gerinnen, ein ums andere Mal hervorgezogen aus dem Denkraum, nachgeschmeckt, hin und her gewendet am Gaumen - wenn es doch immer so gewesen sein könnte.

Wenn das Leben eine einzige Abfolge von wundersamen, außerordentlichen Ereignissen sein könnte. Eines herausragender, umwerfender als das andere. Damit Lebendigkeit gespürt, Ekstase erfahren werden kann - das Elexier des echten, des einzig wahren Lebens.

Doch der Alltag ist grau. Die Versprechungen der Kindheitsgeschichten, dass Eine durch fremde Lande ziehen wird, die drei Blutstropfen der Mutter als Schutz am Busen, von Begegnungen mit Hexen und Prinzen, goldenen Gänsen am Wegesrand und gedeckten Tischen - sie alle entpuppen sich schließlich als aus Zelluloid gemacht, dem schonungslosen Lichte ausgesetzt bald verblassend, blasenwerfend, bis sie schließlich sogar dem Projektor den Garaus machen. Sie werden auch durch die ständige Wiederholung nicht wahrer, die Versprechen von allumfassender Liebe, unbegrenzten Möglichkeiten und dem Recht auf die Erfüllung sämtlicher Wünsche und Bedürfnisse. Nein, ich bin keine versehentlich als Baby vertauschte Königstochter, kein doppeltes Lottchen und auch nicht die, der sich am 11ten Geburtstag magische Befähigungen offenbaren. Ich bin und bleibe einfach nur - ich.

Dieses kleine ins Leben geworfene Bündel aus Fleisch, Fühlen, Wissen-Wollen, Sehnsucht, Angst, Freude - und all der anderen, tausendfach gespiegelten Empfindungen und Emotionen. Ein Stoffwechsel im Stoffwechsel, ständig im Wechsel.

Ich weiß nicht, ob es allen Menschen so geht. Aber in meiner Brust, da wohnt sie, diese ständig nagende Furcht. Das mir morgen der Himmel auf den Kopf fiele und ich in der Gosse lande. Dass ich mich plötzlich sterbend einem allwissenden, kontrollierenden, urteilendem Wesen gegenüber sähe welches verdammt noch mal nichts anderes zu tun hat als mich zu fragen, was ich denn aus all den mir mitgegebenen Gaben so gemacht hätte? Nichts? Wie bedauerlich - ab ins Fegefeuer.

Ja, ich weiß: Angstbilder, genährt aus einer f(r)u(r)chtbaren christlichen Gehirnwäsche. Aber selbst wenn ich Gott und das Fegefeuer abziehe, bleibt da diese grundlegende Versagensangst. Das Klassenziel des Lebens verpasst zu haben. Als Einzige.

Es ist die Angst, nicht WIRKLICH zu leben - ohne einen blassen Schimmer davon zu haben, was das denn wäre. Die Angst vor Einsamkeit inmitten tausender glücklich Verbundener. Vor dem Schweigen, der Übermacht des eigenen Schattens. Eigentlich bin ich kläglich, geizig, gehässig und geil. Und alle können es sehen.

Vor über einem Jahr bin ich davongerannt: Diesem beklemmenden Gefühl, dass mein Leben einfach nur so ereignislos dahinrinnt. Der Angst, mein Schatten könnte mich einholen und alles, was ich schon immer hinsichtlich meiner völlig wahren Unzulänglichkeit befürchtet hatte, könnte wie Pech auf mich niederregnen. Ich dachte, wenn ich nur schnell genug laufe, anderswo hingehe, dorthin, wo das Leben tobt, die Ereignisse sich überschlagen und ungezählte Begegnungen auf mich warten, dann würde endlich Weite einziehen in meine Brust. Dann würde ich dieses Gefühl von Vergeblichkeit abschütteln können.

Heute sitze ich hier in diesem Häuschen, mitten im Nirgendwo und stelle fest - es hat nicht funktioniert. Weder ist das Leben hier grundlegend anders als anderswo, noch hat sich an dieser hartnäckig auf meinen Spuren wandelnden Angst etwas getan.

Und die Reaktionen sind auch wieder die selben: Verstecken möchte ich mich, irgendwo ins Nirgendwo abtauchen. Unsichtbar werden - vielleicht weil ich hoffe, die Angst würde mich dann nicht finden? Zweigeteilt mein Geist, Sehnsucht nach bedeutenden Erlebnissen hüben, Wunsch zu verschwinden drüben. Doch nach und nach sind alle Fluchtwege versperrt.

Langsam beginne ich zu verstehen, dass sie es ist, der ich mich zuwenden muss. Sie wird mich nicht „auslassen“, sie wird mir solange und immer mehr zusetzen, dass verstehe ich jetzt. Und es gibt keinen Ort an den ich gehen könnte, nirgends.

Nein, ich habe keinen Bestseller geschrieben. Kein Mittel gegen den Krebs gefunden, keine sensationell neue Entwicklung in der Kunst initiiert, kein weltenverbesserndes Friedensprojekt gegründet. Ich werde wohl weder den Pulitzer-Preis für mein Lebenswerk erhalten noch den Nobelpreis für Physik. Ich werde nicht herausragen aus der Menge der ganz gewöhnlichen Menschen. Im Außen gibt es nichts für mich zu tun - trotz all der Gaben, die anscheinend in diese Richtung weisen.

Heute erkenne ich mehr und mehr, dass meine Aufgabe vielleicht lediglich darin besteht, diesen inneren Gartenzaun einen Millimeter weiter zu verschieben. Etwas Land zu gewinnen da, wo wir alle flüchten, weil der Boden zu heiss ist. Nicht eben spektakulär. Aber wahrscheinlich bedeutsam. Und vielleicht wird es auch nur für mich Bedeutung haben.

Die Kunst ist, die Befürchtungen aufsteigen zu lassen, sie nicht mehr zu bekämpfen, sie Raum einnehmen zu lassen, doch ohne sich an sie zu binden und fälschlicherweise zu nähren. Dem zugewendet, erscheinen Bilder eines verkrampften, zusammengekauerten Wesens, uralt und zeitlos. Um es herum ist nichts, doch harrt es der Schläge, deren Ausbleiben es nicht zu registrieren scheint. Erstarrt in einer nutzlos gewordenen Schutzhaltung und Abwehr. Nicht hinschauen. Nicht hinfühlen, da ist nur Schmerz. Es könnte entdeckt werden, dass es da ist. In all seiner Jämmerlichkeit, mit all den schrecklichen Dingen, die es getan und unterlassen hat. Auf Vergebung kann nicht gehofft werden. Die Entdeckung des Makels ist unausweichlich. Und die darauf folgende Vernichtung.

Was soll ich nur tun, was soll ich nur tun, ohne Zuhause, ohne Rückzugsort, an den mir keiner folgen kann!? Den Gewalten, Elementen und vor allem der Willkür anderer ausgesetzt stehe ich da, schutzlos, Heimatlos, ohne Fluchtpunkt, die Perspektive ausgelöscht, unter mir zerbröckelnder Staub. Panik steigt auf, und wieder nimmt der Leib ganz von selbst diese Haltung ein, krümmt sich in sich selbst, zieht sich ein wie eine Schnecke, die Angriffspunkte verkleinern, Augen feste zusammengepresst, nichts mehr sehen, nichts mehr fühlen, verschwinden. Jeder Muskel, jede Faser angespannt bis zum Zerreissen, ein äußerer Panzer aus Furcht.

Ich habe kein Gegenmittel gegen die Angst. Furcht ist einfach nur Furcht. Sie ist nicht tapfer, nicht erhaben, sie läutert nicht und hebt eine nicht heraus. Sie ist ein Knoten verschlungener Dinge ganz am Boden des Grundes. Ich - das ist eine Projektion all der Dinge, Eigenschaften, die gerne währen, Gegenmittel, Antidote der Angst. Die Mutige. Die Entschlossene. Sogar das Hervorzeigen-können dieses Angstknotens gehört zur Illusion. Heutzutage kennt eine ihren Schatten und wirft in furchtlos.

Angst, sagt der Buddhismus, ist das Tor zum Mitgefühl.
Angst ist der Schatten, der zur Ganzheit integriert werden muss, sagt die New-Age-Psychologie.
Angst ist Angst ist Angst - sagt die Angst.

Ich habe kein Gegenmittel. Ich kann sie nicht mildern noch mindern. Sie geht nicht weg, nicht durch Zusammensein mit anderen Menschen, nicht im Gebet, an keinem Sommertag im leuchtensten Sonnenschein inmitten des aufregensten Abenteuers, welches das Leben zu bieten hat. Alles, was ich beobachten kann, ist, dass sie wachsen kann, sich aufblähen und ausweiten von Horizont zu Horizont, so dass nichts anderes bestehen kann neben ihr - oder dass sie schrumpft, auf einen winzig kleinen, harten Kern in der Mitte der Dinge, gefangen im Satz: Was wäre, wenn ...? Aber da, da ist sie immer.

Ich denke, sie ist der Preis dafür, dass wir das Ganze, was auch immer das meint, die tiefe, selbstverständliche Bindung zum Leben verlassen haben, um dieses fragile, wackelige kleine „ich bin“ hervorzubringen. Wir können die Verbindung noch spüren, eine hauchzarte Brücke ist da noch, und die Angst besteht darin, sie könnte reissen. Und wir treiben ab ins Unendliche, ohne Wissen um das wie zurück.

Und ich glaube auch nicht, dass es ein Zurück gibt. Wir können nur weiter - nach vorne, oder nach rechts, links, oben, unten, in diese oder jene Dimension. Wir können dieses „Ich bin“ nur weiter entfalten, es möglicherweise wieder beschneiden, da wo wir unkontrolliertes Wuchern gewahr werden. Und die Angst, dieser klitzekleine Kern von Ertappt werden, zur Rechenschaft gezogen werden für dieses maßlose Vergehen, den Fuß vor die Türe des gemeinsamen Kollektiven gesetzt zu haben, er wird uns vielleicht anleiten, eine Sonde sein, die uns den Weg weist.

Möglicherweise haben wir Gottes Plan für uns Menschen verworfen. Überschritten. Vom Baum der Erkenntnis gegessen. Das Paradies verloren. Aber Gott gibt es nur in uns, was ihn oder sie oder es natürlich nicht weniger, sondern eher mehr wirklich macht. Den Zorn, die Vergeltung. Die es auch nur gibt, weil es uns gibt. Mich. Ich. Ich schaue mir ins Antlitz und erkenne meine Unvollkommenheit. Gott ist fehlbar. Furchtbar.

Meine Heimat ist dahin. Ich habe kein Zuhause mehr. Jetzt richte ich mich in den Übergängen ein. In der Diele, auf der Schwelle. Gleich werde ich weiterziehen müssen. Hier ist kein Verharren. Es sucht mich. Und ich eile ihm gelegentlich entgegen.

Montag, 21. November 2011

Schweigen im Blogwald



Schon wieder einmal November. Schon wieder einmal ein Jahr fast vorbei. Schon wieder einmal wochenlang kein Sterbenswörtchen - Schweigen hier und Stille im Blog.

Es gibt eine lebendige weibliche Tagebuchkultur, die sich wie ein roter Faden vom hier und heute in die Vergangenheit schreibender Frauen zieht. Virginia Woolf. Silvia Plath. Susan Sontag. Ganz unterschiedliche Welten, ganz unterschiedliche Lebens- und Schreibstile und doch der allem gemeinsame Wunsch, dem Alltag den Spiegel vorzuhalten, die eigene Seele zwischen Kindern und Küche, Teestunden und Treffen, Wollen und Wunsch aufzufinden. Welche bin ich unter all den vielen, welche Bedeutung hat das, was sich steig wiederholt - und wohin steuert das Schiff - und überhaupt: steuert?

Diese Tagebücher waren und wahrten Geheimnisse. Profanes, was eine nicht ans Tageslicht gezerrt haben wollte. Ganz Intimes, Eigenes, Unausgegorenes und oftmals schamhaft Wahres. Kein Wunder, dass manche der Tagebuchschreiberinnen ihr Innerstes, das da schonungslos offen gelegt wurde für viele Jahre auch nach dem eigenen Tod geschützt haben wollten. Nicht immer ging dieser Wunsch in Erfüllung. Und nicht selten war dieser Wunsch nach Verborgenheit paradox verbunden mit einem sehnsüchtigen Exhibitionismus. Ein Glück. Für mich jedenfalls, denn die eigentlich nur für sich selbst niedergeschriebenen Zeugnisse eines ganz normalen Lebens auch der allergenialsten Dichterin runden deren Bilder erst ab, machen sie vollständig. Oder zeigen, was der vollkommenheitssüchtige öffentliche Blick lieber nicht gesehen haben wollte.

Heute sind die ledergebundenen Hefte, die klecksenden Füllfederhalter, Schnellhefter und Plastikkugelschreiber abgelöst von Bildschirm und Tastatur. Und statt nummernschloßgesichertem Tagebuch schreiben wir Blog. Öffentlich. Das, was früher gut und gerne mal 50 Jahre und mehr ruhen konnte um die Patina der Reife anzusetzen ist heute gleichzeitig innen - und schon draußen. Schon in der Welt, bevor ich es noch fertig ausgebrütet habe.

Zugegeben, ich liebe es, die Blogs meiner Freundinnen zu lesen, Marie-Luise Stiawa, Cambra Skadé und Salamandra, den Blog von Luisa Francia lese ich nahe zu täglich, sofern mich hier in der portugiesischen Pampa das Internet nicht im Stich lässt. An ihren Gedanken, ihrem magischen Alltag teilzunehmen verbindet mich ein Stück weit mit der Welt, in der sie leben. Ihre Texte sind die Fäden meines Netzes, das sich durch ganz Europa spannt. So kann ich in meinem abgeschiedenen Tal sitzen und doch ganz intim wissen, was diese Frauen an- und umtreibt. Telepathisch unbegabt, nutzen wir die virtuelle Welt, um gemeinsam zu tanzen.

Und doch gibt es da dieses Unbehagen. Nicht wegen der angeblich fehlenden Intimsphäre. Erstens entscheide ich ja selbst, was ich hier veröffentliche - und zweitens gibt es dieses „Private“ gar nicht wirklich. Nicht, weil wir eh schon „ausgespitzelte“ Nummerncodes sind bevor wir überhaupt unser Handy angeschaltet, unsere EC-Karte verwendet oder einen Flug gebucht haben. Nein, ich persönlich bin immer mehr davon überzeugt, dass das, was wir unsere eigenen, geheimsten Gedanken und Identitäten nennen tagtäglich mit Millionen anderer Wesen teilen. Nichts in und an uns ist singulär. Das macht ja auch die eigentliche Kraft des Schreibens und Veräußerns aus: Das andere sich darin wieder erkennen.

Nein, mein Problem ist eher die Geschwindigkeit. Oder der Zwang zur kontinuierlichen Aktualität. „The power of now“ - dieser etwas abgegriffene Slogan eines New-Age-Bestsellers könnte auch über den Blogwäldern des Internet stehen. Jetzt. Gleich. Und sofort. Gestern ist Asche, Morgen eine neue Sensation.
Seit ich hier in Portugal lebe, bin ich deutlich langsamer geworden. Und bin doch häufig immer noch zu schnell. Mein Hirn arbeitet immer noch auf Hochtouren beim etwas müßigen Versuch, alles zu er- und begreifen, einzuordnen, zu analysieren und zu verstehen. Dabei: Was gibt es eigentlich „zu verstehen“?

Was ich hier erlebe ist der Wechsel eines Paradigmas: Vom „Sein“ zum „Mit-Sein“. „Mittendrin-Sein“, ununterschieden einzufließen und gewahr werden der eigenen Schwingungsmuster. Ein Prozess, der sich weit vor der Versprachlichung vollzieht.

Vielleicht fällt mir deshalb so schwer zu berichten, was sich so alles im Außen vollzieht. Nicht wenig: Neues gewagt, am Alten hängen geblieben, Muster erkannt, Veränderbarkeit geprüft und festgestellt, dass es etwas gibt, das bleiben will, nicht weichen. Einen Weg gefunden das Eigene neu zu tragen und zu gestalten. Unfraglicher jetzt, nachdem es ganz und gar in Frage gestellt wurde. Nachdem ich mich ganz ins Leben geworfen habe, hat das Leben mir eine Lektion erteilt und eine neue Sicherheit geschenkt. Jetzt weiß ich mehr. Und der nächste Durchlauf beginnt. In anderen Worten? Hat es schon immer Menschen gegeben, die am Rande von menschlichen Gemeinschaften gelebt haben. Die Hagazussen, die, die jenseits des Schutzwalls lebten, den Menschen in der Regel um ihre Siedlungen herum anlegen. Die vom wilden Wald, die sich in Wölfe mit großen Ohren und großen Mäulern verwandeln und junge Mädchen fressen. Die in Bäumen wohnen und Rätsel aufgeben. Zu denen man geht, wenn keiner mehr Rat weiß. Wo es Steinsuppe zu essen und Federbetten aufzuschütteln gibt. Das ist meine Gemeinschaft, die ich im Sternzeichen der Schwellenhüterin geboren bin. Wie die Gemeinschaft der Frauen im Internet, die jeden Tag der Informationsflut dieses Massenmediums ihre eigene Stimme entgegenstellen, unbeirrbar darauf beharrend, das es eine sehr persönliche Wahrheit gibt, die in uns allen wohnt.

Wie, ein Widerspruch? Hatte ich nicht weiter oben gesagt ...?! Aber klar doch. Könnte eine denn wirklich noch annehmen, dass wahre Leben sei ohne Widersprüche? Meine Erfahrung ist: Es ist immer alles gleichzeitig da. Und das ist wohl auch gut so. Also stelle ich mein Schweigen ins Internet. Und schreibe wieder heimlich in mein Buch, mein Zauberbuch, mein Buch der sieben Siegel, Pandorras Büchse ... all das, was ich nur zu mir selber sprechen kann.

Freitag, 9. September 2011

Erneuerung


Im tibetischen Buddhismus gibt es ein Ritual, das sich "Erneuerung des Göttlichen" nennt. Gläubige Buddhisten erneuern ihre Beziehung zum Göttlichen, die vor allem eine Beziehung zum "inneren Göttlichen" ist, indem sie sich zum Beispiel auf eine Pilgerfahrt begeben. Dahinter steht die Auffassung, das eine Beziehung, die nicht gepflegt wird stirbt. Und mit ihr auch die Wesen, die in ihr verbunden sind.

Meine "Pilgerfahrt" hat mich innerhalb von 6 Wochen von Portugal über Spanien nach Frankreich, in die Schweiz und Deutschland geführt. Ich habe eine Karte dieser Tour gezeichnet - wie eine große Leminiskate liegen die Spuren da auf dem Land. Ein Balanceakt, in die Unendlichkeit geschrieben.

Die äußeren Zeichen gemahnen an ein Gleichgewicht, das für mich auch im Inneren herzustellen war. Zwischen dem, was ich verlassen und dem, was neu zu beginnen ich erschlossen hatte. Zurückkehren, um noch einmal zu überprüfen ob die Schritte, die Entschlüsse richtig waren, ob ich die Zeichen richtig gedeutet und mich auf das Abenteuer Leben wirklich eingelassen hatte. Ob mein Mut ausreichte, meine Fähigkeit, das sich-noch-nicht-Offenbarende geduldig abzuwarten, die Übergänge zu meistern und mich im Zaunreiten zu üben.

Nach Deutschland zurück zu kehren, auch nur für einen überschaubaren Besuch, war schmerzlich. Das Haus, unsere "in Würde gealterte Schönheit" lieblos behaust von Menschen, die dem Alter nichts oder nur Beschwernisse abzugewinnen vermögen. Der Garten überwuchert, all die liebevoll gepflegten schwächeren Pflanzen verdrängt durch das, was an diesen Platz ohnehin wirklich hingehört. Es war eben doch auch ein Kampf gegen Windmühlen. Oder anders gesprochen: Das Land lehrte mich, dass meine Vorstellungen immer auch meinen Kraftakt brauchen, um Geltung zu erlangen da, wo andere Gesetze herrschen.

Nach Deutschland zurück zu kehren war eine Konfrontation mit meinem Selbstbild: Jener Raum greifenden und Raum gestaltenden Herrscherin ihres eigenen Reiches, in dem vor allem meine Regeln Geltung haben. Weggehen heisst eben auch Loslassen, heisst das bisher bewohnte Reich anderen Kräften zu überlassen, die eine eben nicht und schon gar nicht aus der Ferne kontrollieren kann. Der Ausgang eines solchen Unternehmens ist stets ungewiss, und in meinem Falle ist das mühsam aufrechterhaltene Gebäude gleich mit meinem Weggang über sich selbst zusammen gebrochen. Wodurch mir klar wurde, wie viel ich gehalten habe.

Was mich Deutschland auch gelehrt hat war die Richtigkeit meines Entschlusses. Auch wenn hier in Portugal andere Spiegel auf mich warten, in die zu blicken nicht minder schwerwiegend und entlarvend ist, so schenken mir doch die Stille und die Sanftmut des Landes, die Einfachheit des Lebens jene Wachheit des Herzens, die Lehren nicht zu Strafen, sondern zu Wachstumsprozessen macht.

Nach Deutschland zurück zu kehren war eben auch eine Erneuerung: Gelebter und geliebter Beziehungen zu Menschen, vor allem Frauen, die mein Leben durch ihre Wachheit, ihren Mut und ihre Entschlossenheit stets bereichern. Erneuert die inneren Bande, die mich mit dieser gebeutelten Heimat verbinden, dieses überbevölkerte Vorzeigestück menschlichen Schaffensdranges. Und auch hier sind es die Bäume, die Steine, vor allem der Fluss Rhein, die mein Herz berühren, die Schwere und Tiefe des Landes in denen ich mich wieder finden kann. Ja, das bin ich auch, und nach Deutschland zu reisen war auch eine Erneuerung zu diesen Aspekten des Göttlichen in mir.

Und wie in den Fingerfadenspielen der Kindheit habe ich auch gesehen, was mich immer noch bindet, wo ich noch eingewoben bin in das Textil der Gegenwärtigkeit. Mein Besitz, der hier noch verwahrt steht, geliebte Möbel und vor allem Bücher. Gedankenschätze, die ich hüte, weil sie mich immer wieder auch nähren, so wie bei diesem Besuch. Wo wäre ich geblieben ohne sie?
Hierher, nach Portugal kann ich sie nicht tragen, hier verflüchtigt sich dieser Zufluchtsort sofort, nicht nur aus reinem Platzmangel. Rückzug in Gedankenräume ist hier weder notwendig noch sinnvoll, Fremdgedachtes untauglich für die Präsenz des Seins. Hier ist, was in Deutschland nur Vorgestellt ist - ob Spirituelles, Atmendes oder Unterbau.

Was mich in Deutschland rettet, wird hier zur Last. Was mich hier belastet, wird aus der deutschen Ferne betrachtet zur Bedeutungslosigkeit. So hängen diese beiden Teile meines Lebens zusammen, irgendwo um ein gemeinsames Zentrum gespannt, das geografisch an der Ardeche liegt. Der rote Faden ist die Frage der Grenzen: Wo liegt mein Reich, wo endet es? Wie viel Schutz und Abgrenzung braucht es wirklich? Wo halte ich fest, was längst durchlässig geworden ist und wo vernachlässige ich, was Zuwendung und Pflege, was Schutz bedarf?

In Cambra Skadés Buch "Am Feuer der Schamanin" gibt es eine anrührende Geschichte von zwei Kriegerinnen, die ausziehen, einander zu bekämpfen. Irgendwann erkennen sie, dass es in Wahrheit um Heilung geht. Die Kriegerin, die ihr Messer verwendet, um Krankes, Kränkendes herauszuschneiden und zur Heilerin wird. Ihr Symbol ist die liegende Acht.

Donnerstag, 30. Juni 2011

Die wilde Standhaftigkeit


Vor meiner Tür wächst - nein, nicht eine, wachsen hunderte wilder Möhren. Die Wiese des Tals, in dem mein Wohnwagen steht ist überzogen mit weißen Punkten, kleinen, scheinbar schwerelos im Wind tanzenden Ufos, Milchstraßen, Planetensystemen des Insektenreichs. Sie strecken sich hervor aus den gelb und rosa durchfluteten Wiesen, überragen an Wuchs und Eleganz Quecke, Hafer und Wiesenschaum - und sind für mich ein Wunder der Standhaftigkeit.
Ich glaube, dieser Beweis des Sieges über die Schwerkraft wäre mir völlig entgangen, hätte ich mich nicht eines schönen Morgens vor mich hinträumend beim Kaffee, sinnierend über Nichts und wieder nichts vom Tanz der gigantischen Blütenkrone hypnotisieren lassen. Und erkannt: Dieses Wunder der Statik, dieser Balanceakt zwischen Gewicht und Grazie, dieses Zusammenkommen von solch gigantischen Dimensionen in einem Lebewesen - das ist eigentlich unmöglich.
Denkste, scheint die wilde Möhre mit leisem Gekichere zu flüstern. Und balanciert dabei auf hauchdünnem Stengelchen eine strahlende Galaxie weisser Miniblüten als wäre es das Einfachste unter der Sonne. Warum auch nicht. Das größte Mirakel dabei ist allerdings, dass sie dieses Gleichgewicht in jeder Sekunde wohl tausendmal neu findet, denn sie steht nicht etwa starr und stumm. Nein, in wild ekstatischem Tanz gibt sie sich völlig an Wind und Wetterspiel hin, schleudert nach links und rechts, neigt sich, richtet sich auf, nur um im nächsten Moment schier in die Höhe zu springen ... In die Höhe zu springen? Ihre Wurzeln scheinen im Äther zu gründen. Und blitzschnell ist sie noch dazu. Auch wenn sie, träge hin und her schwankend wie eine bedrohlich aufgerichtete Kobra glauben machen möchte, sie könne kein Wässerchen trüben. Nun, mich täuscht dieses zarte Pflänzlein nimmermehr.

Im Gegenteil: Seit ich ihrer wahren Natur teilhaftig werden durfte, sie sozusagen freundschaftshalber den Schleier der Illusion ein wenig gelichtet hat (wie bin ich eigentlich zu dieser Ehre gekommen?) ist sie meine Kampfesgefährtin. Meine Magierin, die unter dem Teppich kehrt, meine Lehrmeisterin in Sachen leichtsinniger Starrköpfigkeit. Sie nimmt sich niemals ernst - wie könnte sie. Ein ernsthafter Versuch, dieses Blütenplateau auf die Höhe von 120 cm anzuheben lediglich unter Verwendung aufeinander geschichteter Photosynthese, ohne Abstützung ringsherum wäre unter Verwendung logischer Betrachtungsweisen absolut unmöglich. Sie würde wie die Hummel, deren Flügel ebenfalls mathematisch viel zu klein sind, um ihr Körpergewicht zu tragen am Urteil des gesunden Menschenverstandes abprallen, zurückgeschleudert in die Unmöglichkeit, aus der sie gekommen scheint.

Aber zum Glück schert sich die wilde Möhre nicht um den Menschenverstand, ob nun gesund oder doch eigentlich völlig verdreht. Ja, eine könnte sie glatt Ignorantin nennen, wie sie da allen definierten Naturgesetzen zum Trotz einfach in die Höhe schießt und mit lächerlicher Einfachheit alle Glaubensregeln, die eine so verankert hat in ihrem Leben aus den Fugen lächelt. Du kannst nicht fliegen? Tanzen? Alleine wandern? So.

Sie macht nicht das Unmögliche möglich, sie stellt nicht einmal generell die Frage der Möglichkeiten in Frage. In gänzlicher Unbefangenheit schafft sie inmitten eherner Regelwerke ein neues Universum. Sie ist einfach ganz bei sich. Sie glaubt nicht und benötigt von daher auch keinen Zweifel, der ihr hinderlich im Wege stehen könnte. Sie IST die perfekte Ausgewogenheit des Unvergleichlichen, die völlige Verschmelzung grundlegender Widersprüche, die Brücke zwischen Nichtsein und Sein.

Es geht eben schon.

Montag, 20. Juni 2011

Meine Himmel


"Ich habe nie geschrieben, wenn ich zu schreiben glaubte, ich habe nie geliebt, wenn ich zu lieben glaubte, ich habe nie etwas anderes getan, als zu warten vor verschlossener Tür."
(Marguerite Duras; Der Liebhaber)


Es heißt, die Welt verändere sich, sei im großen Wandel begriffen. Das Ende eines - aus menschlicher Sicht - unvorstellbar langen Zyklus nähere sich, würde mit sich reißen was alt und verbraucht, nicht länger wahr zu sein scheint und eine neue Morgenröte bringen. Die Zeichen zeigten sich allerorts, unverkennbar für jene, die zu sehen bereit oder in der Lage seien. Feuersbrünste, Meeresbeben, Kernschmelzen - fast schon erwartet mit einer sich am Entsetzen nährenden Lüsternheit. Rote Fluten aus Magma, Blut und unverdauter Information ergießen sich über die Erde, Speise und Trank für ein Zeitalter das die Apokalypse zum abendlichen Medienereignis erkoren hat. Brot und Spiele fürs Volk.

Seit 12 Monaten lebe ich in einem 12 qm großem Wohnwagen fast am Ende der Welt. In einem portugiesischen Tal, in dem die Sensationen aus dem jähen Aufblühen der ockerfarbenen Erde nach den ersten Regengüssen des Winters oder einer einfallenden Rotte Schweine bestehen. Die üblichen Theaterbühnen des Lebens kleiden sich in schmerzliche Ereignislosigkeit und wie die Bewohner der platon´schen Höhlen einst muss der Geist Fantasie und Psyche bemühen, um das Rad der gewohnten Dramaturgie dennoch am laufen zu halten. Ansonsten: Fliegengeschwirr, Mückenstiche, Wind in den Bäumen, tosende Brandung, zirpendes Gras, dahin huschende Eidechsen und ab und an das Drama von Leben und Tod. Tage, die sich wie Kaugummi dehnen und plötzlich wie ein ebensolcher, bis an seine äußersten Grenzen gespannter zusammenswitchen zu einem kleinen grauen Klumpen. Die Details, einmal bis an die Grenzen des Überdeutlichen klar und umrissen verschwimmen ineinander zu einem nicht näher Definiertem, einer Eventualität mit fraglicher Bedeutung. Sinn ist eine unsinnige Behauptung. Evolution? Entwicklung? Was bedeutet Veränderung in einem sich ständig neu entwerfenden Universum das sich - aus menschlicher Sicht - in schier unglaublicher Trägheit, wenn überhaupt, bewegt?

Wie das Leben der meisten Menschen, die ich kenne, verändert mein Leben sich eigentlich überhaupt nicht - oder mit so rasanter Geschwindigkeit, dass ich jeden Versuch der Einsicht oder Kontrolle auch gleich fahren lassen kann. Sicher, ich lebe nicht mehr so wie vor einem Jahr, oder vor 15 oder 35 Jahren. Ich habe mein Wetter an einen anderen Ort getragen. Meine Himmel jedoch sind die gleichen geblieben.

Als wären wir in einen Rahmen gestellt, dessen Grenzen wir ablaufen, aber nicht überwinden können. Wie in "Die Wand" von Marlene Haushofer können wir sogar hindurchsehen, was gelegentlich zu Unfällen führt weil wir gegen die durchsichtigen Mauern anrennen, denn das Gras ist drüben viel grüner als hier. Mag das Blau des Himmels zu unserem Schutz gegeben sein ändert es doch nichts an dem schmerzlichen Umstand, dass wir die sind, die wir sind.

Gibt es ein göttliches, ein über den Wassern schwebendes Sein, so ist es doch ebenso wie wir an die Bedingungen unserer Existenz gebunden. Ohne das Blau des Himmels würden wir aller Wahrscheinlichkeit nach unmittelbar in die Bodenlosigkeit stürzen. Oben wäre nicht mehr wie unten, die Welt würde sich nicht mehr um sich selbst drehen und wir wären verloren in unserem Angewiesen-Sein auf das Beständige. Den Wiedererkennungswert des Spiegelkabinetts, in dem wir leben. Würde was auch immer uns verändern wollen, müsste sie/er/es äußerst langsam und bedächtig vorgehen eben weil unser Geist so gerne Bescheid weiß und vor allem - stets ein Wörtchen mitzureden haben will. Ich sehne mich nach der anderen Seite und bin doch noch gar nicht angekommen da, wo ich herkomme. Mein Reich liegt leer und verödet, mein Thron modert vor sich hin und bald schon werden die letzten Bastione zerfallen sein. Vielleicht ist das der Wandel, den wir erwarten. Endlich erlöst zu sein vom Gepäck der Erfahrung, dem Drücken des Wissens um, der Last des nicht ungeschehen machen Könnens.

Über meine Himmel zieht eine Wolke. Unten am Horizont ballt sich zusammen, was ein Sturm werden könnte, wenn ich es denn so wollte. Noch streicht der Wind zärtlich über meine Wangen, kühl und erfrischend. Doch schon in wenigen Stunden wird die Hitze unerträglich werden, wird mich in den Erdboden brennen, mich ganz und gar verglühn. Der Himmel wird dann violett sein, tief und fern mit einem Stich Gelb für den Neid. Spätestens dann wird mein Geist ausziehn, ins Grenzland. Sind die Schatten nicht tiefer, dort drüben?