Donnerstag, 8. Dezember 2011

In den Zwischenräumen leben



Langsam, sehr langsam beginnt Verstehen sich durchzuringen. Endlich innehalten, endlich gewahr werden, endlich - was? Aufgeben?

Ein Leben lang auf der Flucht. Vor diesem Gefühl in der Brust, das sich bevorzugt in Herbst und Winter einstellt, wenn die Nebel fallen, alles Leben sich dem Kern zuwendet, Stille einzieht und Langsamkeit. Wenn die schillernden Attraktionen des Sommers verblassen, wenn Abenteuer zu Geschichten werden, am Kamin erzählt. Zu Erinnerungen gerinnen, ein ums andere Mal hervorgezogen aus dem Denkraum, nachgeschmeckt, hin und her gewendet am Gaumen - wenn es doch immer so gewesen sein könnte.

Wenn das Leben eine einzige Abfolge von wundersamen, außerordentlichen Ereignissen sein könnte. Eines herausragender, umwerfender als das andere. Damit Lebendigkeit gespürt, Ekstase erfahren werden kann - das Elexier des echten, des einzig wahren Lebens.

Doch der Alltag ist grau. Die Versprechungen der Kindheitsgeschichten, dass Eine durch fremde Lande ziehen wird, die drei Blutstropfen der Mutter als Schutz am Busen, von Begegnungen mit Hexen und Prinzen, goldenen Gänsen am Wegesrand und gedeckten Tischen - sie alle entpuppen sich schließlich als aus Zelluloid gemacht, dem schonungslosen Lichte ausgesetzt bald verblassend, blasenwerfend, bis sie schließlich sogar dem Projektor den Garaus machen. Sie werden auch durch die ständige Wiederholung nicht wahrer, die Versprechen von allumfassender Liebe, unbegrenzten Möglichkeiten und dem Recht auf die Erfüllung sämtlicher Wünsche und Bedürfnisse. Nein, ich bin keine versehentlich als Baby vertauschte Königstochter, kein doppeltes Lottchen und auch nicht die, der sich am 11ten Geburtstag magische Befähigungen offenbaren. Ich bin und bleibe einfach nur - ich.

Dieses kleine ins Leben geworfene Bündel aus Fleisch, Fühlen, Wissen-Wollen, Sehnsucht, Angst, Freude - und all der anderen, tausendfach gespiegelten Empfindungen und Emotionen. Ein Stoffwechsel im Stoffwechsel, ständig im Wechsel.

Ich weiß nicht, ob es allen Menschen so geht. Aber in meiner Brust, da wohnt sie, diese ständig nagende Furcht. Das mir morgen der Himmel auf den Kopf fiele und ich in der Gosse lande. Dass ich mich plötzlich sterbend einem allwissenden, kontrollierenden, urteilendem Wesen gegenüber sähe welches verdammt noch mal nichts anderes zu tun hat als mich zu fragen, was ich denn aus all den mir mitgegebenen Gaben so gemacht hätte? Nichts? Wie bedauerlich - ab ins Fegefeuer.

Ja, ich weiß: Angstbilder, genährt aus einer f(r)u(r)chtbaren christlichen Gehirnwäsche. Aber selbst wenn ich Gott und das Fegefeuer abziehe, bleibt da diese grundlegende Versagensangst. Das Klassenziel des Lebens verpasst zu haben. Als Einzige.

Es ist die Angst, nicht WIRKLICH zu leben - ohne einen blassen Schimmer davon zu haben, was das denn wäre. Die Angst vor Einsamkeit inmitten tausender glücklich Verbundener. Vor dem Schweigen, der Übermacht des eigenen Schattens. Eigentlich bin ich kläglich, geizig, gehässig und geil. Und alle können es sehen.

Vor über einem Jahr bin ich davongerannt: Diesem beklemmenden Gefühl, dass mein Leben einfach nur so ereignislos dahinrinnt. Der Angst, mein Schatten könnte mich einholen und alles, was ich schon immer hinsichtlich meiner völlig wahren Unzulänglichkeit befürchtet hatte, könnte wie Pech auf mich niederregnen. Ich dachte, wenn ich nur schnell genug laufe, anderswo hingehe, dorthin, wo das Leben tobt, die Ereignisse sich überschlagen und ungezählte Begegnungen auf mich warten, dann würde endlich Weite einziehen in meine Brust. Dann würde ich dieses Gefühl von Vergeblichkeit abschütteln können.

Heute sitze ich hier in diesem Häuschen, mitten im Nirgendwo und stelle fest - es hat nicht funktioniert. Weder ist das Leben hier grundlegend anders als anderswo, noch hat sich an dieser hartnäckig auf meinen Spuren wandelnden Angst etwas getan.

Und die Reaktionen sind auch wieder die selben: Verstecken möchte ich mich, irgendwo ins Nirgendwo abtauchen. Unsichtbar werden - vielleicht weil ich hoffe, die Angst würde mich dann nicht finden? Zweigeteilt mein Geist, Sehnsucht nach bedeutenden Erlebnissen hüben, Wunsch zu verschwinden drüben. Doch nach und nach sind alle Fluchtwege versperrt.

Langsam beginne ich zu verstehen, dass sie es ist, der ich mich zuwenden muss. Sie wird mich nicht „auslassen“, sie wird mir solange und immer mehr zusetzen, dass verstehe ich jetzt. Und es gibt keinen Ort an den ich gehen könnte, nirgends.

Nein, ich habe keinen Bestseller geschrieben. Kein Mittel gegen den Krebs gefunden, keine sensationell neue Entwicklung in der Kunst initiiert, kein weltenverbesserndes Friedensprojekt gegründet. Ich werde wohl weder den Pulitzer-Preis für mein Lebenswerk erhalten noch den Nobelpreis für Physik. Ich werde nicht herausragen aus der Menge der ganz gewöhnlichen Menschen. Im Außen gibt es nichts für mich zu tun - trotz all der Gaben, die anscheinend in diese Richtung weisen.

Heute erkenne ich mehr und mehr, dass meine Aufgabe vielleicht lediglich darin besteht, diesen inneren Gartenzaun einen Millimeter weiter zu verschieben. Etwas Land zu gewinnen da, wo wir alle flüchten, weil der Boden zu heiss ist. Nicht eben spektakulär. Aber wahrscheinlich bedeutsam. Und vielleicht wird es auch nur für mich Bedeutung haben.

Die Kunst ist, die Befürchtungen aufsteigen zu lassen, sie nicht mehr zu bekämpfen, sie Raum einnehmen zu lassen, doch ohne sich an sie zu binden und fälschlicherweise zu nähren. Dem zugewendet, erscheinen Bilder eines verkrampften, zusammengekauerten Wesens, uralt und zeitlos. Um es herum ist nichts, doch harrt es der Schläge, deren Ausbleiben es nicht zu registrieren scheint. Erstarrt in einer nutzlos gewordenen Schutzhaltung und Abwehr. Nicht hinschauen. Nicht hinfühlen, da ist nur Schmerz. Es könnte entdeckt werden, dass es da ist. In all seiner Jämmerlichkeit, mit all den schrecklichen Dingen, die es getan und unterlassen hat. Auf Vergebung kann nicht gehofft werden. Die Entdeckung des Makels ist unausweichlich. Und die darauf folgende Vernichtung.

Was soll ich nur tun, was soll ich nur tun, ohne Zuhause, ohne Rückzugsort, an den mir keiner folgen kann!? Den Gewalten, Elementen und vor allem der Willkür anderer ausgesetzt stehe ich da, schutzlos, Heimatlos, ohne Fluchtpunkt, die Perspektive ausgelöscht, unter mir zerbröckelnder Staub. Panik steigt auf, und wieder nimmt der Leib ganz von selbst diese Haltung ein, krümmt sich in sich selbst, zieht sich ein wie eine Schnecke, die Angriffspunkte verkleinern, Augen feste zusammengepresst, nichts mehr sehen, nichts mehr fühlen, verschwinden. Jeder Muskel, jede Faser angespannt bis zum Zerreissen, ein äußerer Panzer aus Furcht.

Ich habe kein Gegenmittel gegen die Angst. Furcht ist einfach nur Furcht. Sie ist nicht tapfer, nicht erhaben, sie läutert nicht und hebt eine nicht heraus. Sie ist ein Knoten verschlungener Dinge ganz am Boden des Grundes. Ich - das ist eine Projektion all der Dinge, Eigenschaften, die gerne währen, Gegenmittel, Antidote der Angst. Die Mutige. Die Entschlossene. Sogar das Hervorzeigen-können dieses Angstknotens gehört zur Illusion. Heutzutage kennt eine ihren Schatten und wirft in furchtlos.

Angst, sagt der Buddhismus, ist das Tor zum Mitgefühl.
Angst ist der Schatten, der zur Ganzheit integriert werden muss, sagt die New-Age-Psychologie.
Angst ist Angst ist Angst - sagt die Angst.

Ich habe kein Gegenmittel. Ich kann sie nicht mildern noch mindern. Sie geht nicht weg, nicht durch Zusammensein mit anderen Menschen, nicht im Gebet, an keinem Sommertag im leuchtensten Sonnenschein inmitten des aufregensten Abenteuers, welches das Leben zu bieten hat. Alles, was ich beobachten kann, ist, dass sie wachsen kann, sich aufblähen und ausweiten von Horizont zu Horizont, so dass nichts anderes bestehen kann neben ihr - oder dass sie schrumpft, auf einen winzig kleinen, harten Kern in der Mitte der Dinge, gefangen im Satz: Was wäre, wenn ...? Aber da, da ist sie immer.

Ich denke, sie ist der Preis dafür, dass wir das Ganze, was auch immer das meint, die tiefe, selbstverständliche Bindung zum Leben verlassen haben, um dieses fragile, wackelige kleine „ich bin“ hervorzubringen. Wir können die Verbindung noch spüren, eine hauchzarte Brücke ist da noch, und die Angst besteht darin, sie könnte reissen. Und wir treiben ab ins Unendliche, ohne Wissen um das wie zurück.

Und ich glaube auch nicht, dass es ein Zurück gibt. Wir können nur weiter - nach vorne, oder nach rechts, links, oben, unten, in diese oder jene Dimension. Wir können dieses „Ich bin“ nur weiter entfalten, es möglicherweise wieder beschneiden, da wo wir unkontrolliertes Wuchern gewahr werden. Und die Angst, dieser klitzekleine Kern von Ertappt werden, zur Rechenschaft gezogen werden für dieses maßlose Vergehen, den Fuß vor die Türe des gemeinsamen Kollektiven gesetzt zu haben, er wird uns vielleicht anleiten, eine Sonde sein, die uns den Weg weist.

Möglicherweise haben wir Gottes Plan für uns Menschen verworfen. Überschritten. Vom Baum der Erkenntnis gegessen. Das Paradies verloren. Aber Gott gibt es nur in uns, was ihn oder sie oder es natürlich nicht weniger, sondern eher mehr wirklich macht. Den Zorn, die Vergeltung. Die es auch nur gibt, weil es uns gibt. Mich. Ich. Ich schaue mir ins Antlitz und erkenne meine Unvollkommenheit. Gott ist fehlbar. Furchtbar.

Meine Heimat ist dahin. Ich habe kein Zuhause mehr. Jetzt richte ich mich in den Übergängen ein. In der Diele, auf der Schwelle. Gleich werde ich weiterziehen müssen. Hier ist kein Verharren. Es sucht mich. Und ich eile ihm gelegentlich entgegen.

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